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Inselglück

Vier Monate und zwei Tage, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte – aus Gründen innerer Entfremdung, wie sie es begründete; weil, so erklärte er es, es ihm immer klammer wurde mit dem Geld und sie von ihm keine goldenen Brocken mehr erwarten durfte – und einen Tag, nachdem er sie mit einem anderen Mann Hand in Hand vor den Auslagen eines Juweliergeschäfts gesehen hatte, lachend beide und ein Paar zum Hingucken, las Gregor T. zum ersten Mal die Partnerschaftsannoncen in der Regionalpresse. Er musste dem offenbaren Glück der Frau etwas entgegenstellen, durfte sich nicht länger hintangestellt fühlen und kleingemacht durch sie. Außerdem war ihm von Nacht zu Nacht mehr nach Frau, nach dem Klang des Pulses unter einer andern Haut, nach der Erlösung in einem andern Körper, nach einem Einssein mit der an sich biologischen Feindin, wie er in seinen wilden Zeiten die Frauen als Gattung bezeichnet hatte. Da war er dreißig gewesen und im Saft und mit Ideen im Kopf, dass es zum Überlaufen war und alle Tinte der Welt nicht ausreichen mochte dafür. Gregor T. war Schriftsteller, einer, der sich in die Erfolgsspur schrieb damals, und der nun, zwanzig Jahre später, wie aus der Zeit gefallen be- und gehandelt wurde, und das hieß, er war erfolglos, unbekannt und überlebte mit Stipendien, Förderungen und dem Großmut des Bundespräsidenten, der ihm dreimal im Jahr zwei Riesen als Künstlerhilfe von seinem Büro überweisen ließ. Aber noch lebte er und hatte Bedürfnisse und gab ihnen nach.

Und so war die Lektüre der Kontaktanzeigen wie ein Frevel und abenteuerlicher Kitzel zugleich. Was sich da anbot war spaltenweise außerhalb seines Kalküls. Ob die Liebe zur Volksmusik oder zum Radfahren, ob die Lust auf Lagerfeuerromantik, Bikertouren und Segeltörns, ob auf Gartenarbeit und Kochgenüsse, damit war er nicht zu interessieren; und dass sein Aussehen nicht so wichtig sein sollte, verstand sich ebenso von selbst wie dass er mit Alkohol umgehen konnte und sein Herz linkerseits auf dem rechten Fleck hatte. Er überlas das mit einem Schauder von Ertapptsein und Enttäuschung. Aber dann bot sich, in sanftem Fettdruck und mit einer Farbgebung, die Dringlichkeit signalisierte, Charme, Weiblichkeit und Intelligenz, die für alles offen und für jeden Spaß zu haben war, Akadem., 50, Rubenstyp, mobil, finanz. abgesichert.

Gregor brauchte keine fünf Minuten für den Entschluss und dass er es tat, sich mit der angegebenen Fon-Chiffre in die Vermittlungshotline zum Preis von 2 Euro 99 die Minute einzuwählen. Bis er ihre Stimme vom Band hörte, brauchte es exakt drei Minuten und 23 Sekunden. Sie sagte nur den einen Satz: Wenn Sie weiterhin so mutig sind, sprechen sie Ihre Telefonnummer aufs Band, ich rufe zurück. Ihre Stimme hatte genau das Timbre, das er sich erwartet hatte, hatte nicht die geringste Nuance ins Schmeichlerische. Und er sagte, bevor er seine Nummer nannte, dass eine Frau vom Rubenstyp mit Charme, Weiblichkeit und Intelligenz – er las das von der Annonce ab – genau die Frau sein könnte, mit der er sich was vorstellen könnte; er würde sich also über einen Rückruf freuen.

Die Freude hatte er schon eine knappe Stunde später. Wegen ihrer Stimme wusste er sofort Bescheid, wer ihn da anrief. Trotzdem verhüstelte er seinen Namen, den stets klar vernehmbar zu nennen, er sich eigentlich zum Gebot gemacht hatte. Auch ihren Namen verstand er nicht deutlich genug, um sie im Gespräch damit anzureden. Sie fragte sogleich, was das denn wäre, was er sich vorstelle beziehungsweise vorstellen könnte mit einer Frau, die sich so inseriere? Er gab seine Antwort mit einem Lacher. So einiges, antwortete er, gute Gespräche, Lachen, Vertrauen, das vor allem, ohne Vertrauen wäre keine Beziehung für ihn denkbar. So, so, war ihre Reaktion, Sie sind beziehungsgeschädigt, aber wer ist das nicht? Dennoch, entgegnete er, sei auch er für alles offen und für jeden Spaß zu haben. Bevor er einen Lacher nachsetzen konnte, sagte sie, dass, wenn er einer wäre, der alles wörtlich nimmt, sie ganz sicher Probleme bekämen, das gäbe es ja, dass Männer sich für charakterstark und charismatisch hielten, nur weil sie  Paragraphenreiter wären und ihr Leben buchstabengenau einrichteten. Obwohl er beteuerte, dass er so einer auf keinen Fall sei, und sie sagte, dass es von ihr keinesfalls ihn betreffend ablehnend gemeint war, was sie gesagt hatte, war danach ein Bruch in dem Gespräch, und sie beendeten es mit der gegenseitigen Befragung, was er, beziehungsweise sie, beruflich treibe? Gregor antwortete, er sei selbständig, und sie sagte, dass sie vor fünf Monaten von der Uni in ein Sabbatjahr gewechselt wäre. Sie verabredeten ein zweites Gespräch für die nächsten Tage.     

Schon am nächsten Abend – in der Nacht zuvor hatte er von einer massigen grauhaarigen Frau geträumt, die ihn mit beiden Händen am Kopf packte und ihn mit dem Griff zwingen wollte, an ihren großen, dunklen Brustwarzen zu saugen, und er war aufgewacht, weil er vom Ekel davor ins Kopfkissen gespuckt hatte und der Schleim vom Stoff über sein Gesicht schlierte – rief sie wieder an. Sie wollte an ihrem gestrigen Gespräch, um nicht falsch verstanden zu werden, richtigstellen, damit er sich kein falsches Bild von ihr mache und sie beide sich nicht in eine nur noch schwer korrigierbare Konstellation rangierten, dass sie keineswegs einen linkslastigen politischen Radikalismus vertrete, nur weil sie gesagt hatte, dass ein Mann vom Typus Castros sie als Frau durchaus anspreche. Es war eine verstörende Erregtheit in ihrer Stimme, auch atmete sie, als würde sie mit einem auffahrenden Lift um die Wette eine Treppe hinaufhetzen. Sie hätten, sagte sie, vielleicht nicht von ihren Überzeugungen …

Er könne sich nicht erinnern, dass sie über Politik oder Männertypen oder den kubanischen Revolutionsbarden gesprochen hätten, unterbrach er sie, könne es sein, dass sie da etwas durcheinanderbringe? Er hörte sie atmen, als ginge es für sie auf die letzten Stufen gegen den Lift.

Wie war noch der Name?, fragte sie.

Und er sagte, du heißt Bettina, richtig?

Er hatte sie überrumpelt, denn sie antwortete, ich heiße Annalena. Ihr gehetztes Atmen setzte aus, wahrscheinlich hatte sie gecheckt, dass er sie ausgetrickst hatte.

Gregor bewegte die freie Hand über die Rückseite des Telefonhörers in der Imagination, er streiche über das überraschend luftige graue Haar einer Frau, die neben ihm kniete und versuchte, mit ihrem gepressten Atem sein Geschlecht anzuheizen. Außerdem, sagte er, ich bin jünger als Fidel, rasiere mich zweimal die Woche, und Kuba war für mich nie eine Reise wert.

Entschuldigung, sagte sie, das passiert mir nicht noch mal, das verspreche ich.

Annalena, sagte er schnell, hallo! Aber sie hatte das Gespräch beendet. Er wiederholte ihren Namen und das Hallo in den Freiton. Sein aufgeheiztes Geschlecht erkaltete. Er hörte das Ticken der Uhr aus dem Nebenzimmer. Und bevor er sich überwand, die Fon-Chiffre von ihrer Annonce zu wählen, ging er zum Globus, der im Nebenzimmer unter der gewaltig tickenden Uhr stand und dessen arktische Regionen der Staub wie eine samtene Folie bedeckte, und versuchte ohne vorherige Orientierung mit geschlossenen Augen einen Zeigefinger auf Kuba zu tippen. Das misslang. Der Zeigefinger des Mannes Gregor T. irrte über pazifische kartografische Signaturen und zerfurchte den Staub, als er in die nordpolare Zone hinaufglitt. Auch der Anruf missglückte. Die gewählte Nummer sei zur Zeit nicht verfügbar, wurde automatengetreu mitgeteilt. Der Mann stoppte für einen langen Atemzug mit seinen bestaubten Fingern den Sekundenzeiger der Uhr, das rhythmische Vibrieren des blockierten Zeigers gegen seine Fingerkuppen gab ihm das Gefühl, die Zeit wie ein tatsächliches Fließen, einen zwar substanzlosen, aber nicht tilgbaren Trieb zu spüren. Annalena, dachte er, was für ein Jux. Und er saß für Stunden an seinem Platz und notierte, was er der Frau sagen wollte, wenn sie ihn noch einmal anrief. Dabei hörte er ihre Stimme wie einen ihn betörenden Monolog, und es gab Momente, in denen wieder ein Atem gegen sein Geschlecht geblasen wurde und er sich mit seinen Händen in dem ergrauten Haar einer aphrodisierend duftenden Frau verlor. Er musste, sollte es einen weiteren Anruf von Annalena geben, Fakten schaffen, auf ein irgend humoresk nichtssagendes Geplänkel durfte es nicht noch einmal mit ihnen treiben, und nicht, dass er die Frau ein zweites Mal in die Enge trieb mit einem rabulistischen Trick, mit seinem rhetorischen Tic, sich in jedem Fall in Vorderhand zu reden; er würde sich ihr darstellen, unverstellt, und wenn es sein musste, bis auf den Grund, also dass er auch gestand, ein sich zumeist in brotlosen Versuchen sich Vertuender zu sein, und dass es zu einem sie bindenden Versprechen zwischen ihnen kam. Je mehr er sich eingestand, dass er die Frau Annalena ins Phantomhafte stilisierte, sie mit der unberechtigten Erwartung auf Entsprechung besetzte, desto manifester wurde sein Entschluss, dass er sie sehen musste, dass es zu einem Treffen kommen musste, zu einer Verabredung, in der das Leibhaftige ihrer Existenzen – in solche Verstiegenheit dachte sich Gregor T. – gegeneinander gewichtet werden konnte, denn nur darum ging es, dass sie sich nichts vergaben einer dem andern vom Noch-Sein. Es würde für den Mann Gregor um alles gehen, sollte die Frau Annalena ihn noch einmal kontaktieren. Und dafür wappnete er sich mit konkret formulierten Aussagen, die er vornotierte und lernte, sie aufzusagen, und mit einem ebenso konkreten Vorschlag, wo und wann er auf sie warten würde.

Annalena rief an, als es begann, dass er sich einredete, dass es doch besser wäre, wenn sie sich nicht wieder meldete und er das, was mit ihr gewesen war, als ein Verschrecken in seinem Eigentlichen, als einen sein emotionales System ephemer verkrausenden, aber folgenlosen Impuls abtun konnte. Hallo, sagte sie mit einem Vibrieren in der Stimme, als käme sie von jenseits eines Höhepunktes außerhalb eines erklärenden Ermessens, da bin ich wieder.

Wo warst du?, fragte er spontan, das dauerte, als wärst du auf einem andern Stern.

Ach, Gregor, sagte sie mit ihrer nach geschönten Stimme, kennst du das nicht, dass man Zeiten hat, in denen es einen schleudert von Abflug zu Abflug, dass man wie mit einem offenen Kopf in stählerner Luft lebt?

Oja, das kannte Gregor, aber davon, dass er ihr seinen Namen genannt hatte, konnte er sich nicht in Kenntnis setzen.

Gregor, fragte Annalena, das kennst du doch auch, oder? Dass alles in einem gegenläuft, das Blut, die elektrischen Impulse der Nervenbahnen, die Gefühle … ?

Wir sollten uns treffen, sagte der Mann. Was meinst du? Er hörte ihren Atem, der mit einem leisen Rasseln unterlegt war – sie war Raucherin womöglich? – aber eine Antwort bekam er nicht. Wir sollten uns in die Augen sehen, sagte der Mann, wir sollten übers Reden hinaus und hinter die Worte kommen.

Was erwartest du hinter den Worten?, fragte sie. Was kann hinter den Worten anderes sein als der Müll unserer Seelen, das von uns Abgelebte, die Exkremente unseres Seins?

Geht es dir nicht gut, Annalena?, fragte Gregor.

Und sie antwortete, es ging mir noch nie so schlecht, dass es nicht mehr ging.

Es gab ein Geräusch in sein Ohr, als wäre ihr der Hörer zu Boden gefallen und sie jage dem nach verbissen und erfolglos, denn es polterte, schurrte und knurrte. Und dann hörte er sie. Oskar, bettelte sie, sei lieb, Oskar, der Mann tut Lena nichts, wir reden nur, es ist nur plapperplapper, gib Lena den Hörer, sei lieb, mein Großer, mein Held, mein Herzmesser, du!

Annalena, fragte er laut, was ist passiert? Brauchst du Hilfe?

Das war Oskar, lachte sie, wenn der Hund eine Männerstimme hört, die einen testosterogen dominierten Klang hat, überwältigt ihn sein Rettungsinstinkt. Sie lachte wieder. Wenn du ihn einmal kennenlernen wolltest, würde ich dir raten, auf der Hut zu sein.

Ich bin am Wochenende in Heringsdorf, sagte Gregor intuitiv, so wie ein Stürmer den ultimativen Pass seines Spielmachers in Sekundenbruchteilen adaptiert und zum Treffer ausnutzt, im Steigenberger, ich kann das für dich mitarrangieren, sagen wir Sonnabend ab vierzehn Uhr und open end? Hallo?

Das geht mir zu schnell, sagte Annalena, darauf bin ich nicht vorbereitet.

Ganz unverbindlich, sagte Gregor, und Usedom ist unter allen Umständen eine Reise wert.

Er hörte wieder das Knurren des Hundes und leise ihre Stimme, die den Helden Oskar zu besänftigen versuchte. Der Mann tut doch nichts, hörte er sie, der Mann ist auch nur so allein und versucht’s zu ändern.

Hallo, rief Gregor so, als wäre er in Not gebracht, hast du mich verstanden? Heringsdorf auf Usedom! Am Wochenende! Ist das ein Problem für dich? Hallo!

Ich kann nichts versprechen, hörte der Mann die Frau, mit dem Sand ist’s oft nicht verträglich und mit den Möwen nicht und wenn dann der Wind noch!

Die Wellnesslandschaft im Steigenberger ist ein Erdteil für sich, rief er in den Hörer, und die Insel hat auch im Binnenland ihre Reize.

Ich verspreche nichts, sagte die Frau und beendete das Gespräch.

Trotzdem hatte der Mann zehn Minuten später über seine Enkeltochter Clarissa, die im Steigenberger Hotel in Heringsdorf im zweiten Jahr auf Hotelmanagement azubierte, ein Zweibettzimmer zum Angehörigenvorzugsrabatt gebucht und pfiff danach für Stunden das melodische Leitmotiv der C-Dur Kantate von Beethoven so perfekt zu seinen Lippen hinaus, wie es ihm noch nie gelungen war.

So pfiff er’s auch wieder, als er sich am Sonnabend gegen vierzehn Uhr so in die Empfangslounge des Steigenberger platzierte, dass er den Eingang, die Rezeption und den Liftbereich anteilig im Blick hatte und ihm das Herz klopfte wie vor vierzig Jahren, als er eine halbe Stunde nach Beginn der verordneten Nachtruhe aus dem Zelt, in dem seine Pioniergruppe logierte, zu der Stelle an dem Zaun geschlichen war, wo er sich mit Chris verabredet hatte und wo sie dann das Pionierferienlager Boles?aw Bierut unerlaubt verließen und bis zum Morgen in den Dünen lagen und wild und verkrampft und angefüllt mit Süße und Bangigkeit aneinander rummachten, ohne dass es zu dem kam, worauf sie es trieben, weil’s einmal praecox aus ihm herausschleuderte und ein andermal ihr ein Dorn so ins Hintere stach, dass der Schmerz und die Behinderung davon gegen alles Weitere standen. Er hatte eine Vorstellung von der Frau Annalena, die er jedoch bis auf das ergraute Haar in keine Einzelheit zu konkretisieren vermochte, nur, dass er sie und somit auch sie einander mit dem ersten Blick erkennen würden.

Doch dann, es ging schon auf fünfzehn Uhr und das Pfeifen war ihm längst vergangen und seine kolorierten Vorstellungen von der Frau waren längst zu Brandsätzen in seinem Nervenkostüm geworden, war sie es, die den Kontakt realisierte. Sie hatte ihm schon Minuten gegenübergesessen und einem enorm hässlichen Sportmops, der bei jedem Atemzug schniefte, als würde er keinen weiteren durch seine zerknautschte Nase bringen, die grauschwarzen Stirnhaare gekrault, als wäre der in Tatsache ein müde gekämpfter Held, und er hatte gedacht: Hund und Frauchen in traulicher Pose, da spitzt’s sich stumpf in jeder Hose, denn trotz der neckisch gerollten rötlich blonden Locken an ihren Schläfen und ihrem allgemein jugendlichen Habitus war die Frau außerhalb seines ohnehin weit definierten Beuteschemas, sie lag in jedem Belang eine Nuance daneben.

Sie sagte und wendete den Kopf des Hundes in Gregors Richtung, wenn das nicht der Herr Gregor ist, müssen wir die Sonne zwei Tage weiterschieben!

Bei den ersten Lauten ihrer Stimme war er aufgestanden und auf sie zugegangen. Der Sportmops knurrte. Die Frau lächelte. Und alle Nuancen, die gegen sie gesprochen hatten und noch hätten gegen sie sprechen können, verflüchtigten sich wie ein Schwarm lästiger Fliegen vom Zuckerkuchen, wenn der Schatten des Herrn über sie fällt, wie es in den Legenden zur Gläubigkeit nachzulesen ist. Annalena, sagte Gregor, wie ich mich freue!

Der Mops stieß mit dem Knurren Speichel aus und wetzte die Pfoten der Hinterläufe über das Leder des Sitzmöbels. Auch Annalena erhob sich. Ihr Scheitel reichte bis unter Gregors Nasenspitze. Dem Mops verunglückte ein Bellen zum Quieken, und sie nahm ihn auf den Arm. So konnten sie einander nicht die Hände reichen.

Er würde das mit dem Zimmer klären, sagte Gregor, er hätte zwar nur noch ein Doppelzimmer ordern können, aber sie wären ja erwachsen!

Das wäre nicht nötig. Annalena berührte Gregors Arm. Sie sei gestern schon angereist, hätte ein gutes Zimmer zu guten Konditionen bekommen; und auch ein Erwachsensein bewahre nicht in jedem Fall vor närrischster Kinderei. Nicht enttäuscht sein, setzte sie hinzu, und sowieso würde es mit Oskar Probleme geben in einem Zweitbettzimmer. Der Mops knurrte bestätigend und steckte den Kopf unter Annalenas Achsel.

Der Mann war enttäuscht und verbarg es nicht. Und die Frau interpretierte den Grund dafür gewollt falsch. Sie blickte an sich runter und sagte, naja, mit Rubenstyp habe ich wohl übertrieben, aber – sie schnippte gegen die Locken an ihren Schläfen – ein bisschen stimmt’s doch.

Sie gingen dann trotz auffrischenden Windes und tief ziehender Wolken auf die Promenade und bewältigten auch die Seebrücke bis zum Restaurant und nahmen dort je einen Irish Coffee. Gregor spendierte Oskar ein Hundeeis, das der jedoch generös verschmähte. Aber als Annalena einmal über zehn Minuten auf der Toilette blieb, sprang er auf Gregors Schoß und beleckte die metallene Schnalle seines Gürtels. Annalena entschuldigte ihr langes Wegbleiben damit, dass Meeresrauschen jedes Mal in ihr etwas in Bewegung brachte, das sie nur schwer kontrollieren konnte. Was genau das war und wie sie’s auf der Toilette kontrollierte, sagte sie nicht. Und wie und warum er’s erfragen sollte, blieb für Gregor unerklärt. Außerdem war der Mops mit seiner Zunge zwischen die Knopfleiste seines Hemdes geraten und schabte von seinem Körperhaar, das seine Vorderseite von der Brust bis in den Schambereich bewuchs.

Pfui, Oskar! Annalena zerrte den Mops von Gregor. Der Hund knurrte sie an und leckte um sein brachiales Maul, als hätte er von einer Köstlichkeit gekostet. Manchmal kann dieses Tier ein solches Ferkel sein, sagte die Frau.

Er hat mich nicht gefressen. Der Mann verköpfte das Hemd. Und ich sterbe nicht daran.

Trotzdem, es ist nicht jedes Manns Sache, von einem Hund beschleckt zu werden.

Es ist dein Oskar, sagte Gregor, da hat er ein dickes Plus bei mir.

Sie mussten im Restaurant bleiben. Der Wind klatschte Regen an die Fenster wie aus Eimern und die See gebärdete sich, als wär’s am Aufkochen mit ihr.

Gregor fragte Annalena, was er sich in betreff auf sie vorzustellen hätte unter Akademikerin?

Religionsgeschichte und Religionsphilosophie, antwortete sie, Promotion, Habilitation und sämtliche Arbeiten hätte sie zum Thema „Die Entmystifizierung der Gottesbeweise im Spektrum seines Wirkens“ verfasst.

Für ihn hätte sich solch Spekulationsbombast mit der Erkenntnis erledigt, dass nur die Erfindung Gottes uns die Wahrheit ertragen lässt, dass es ihn nicht gibt, entgegnete Gregor. Er hätte sie mehr dem Kunstfach zugeordnet.

Nein, Gott ist mein Thema, seit ich denken kann. Annalena blickte hinunter auf die tumultene See. Sie fröstelte. Und an ihrer linken Schläfe bog es die Locke ab wie von einem geheimen Luftzug.

Gregor musste gegen das Verlangen an, sie dort zu berühren, gegen die ihn bedrängende Gewissheit, nur dort und jetzt einen Zugang zu der Frau zu finden. Und er sagte, egal, wie es kommt mit uns, ich werde nie mit dir beten können, denn …

Sie sind nicht für jeden Spaß zu haben, unterbrach ihn Annalena, das nur, damit ich nicht falsch verzweckt zitiert werde. Sie pappte die abstehende Locke mit einem spuckefeuchten Finger an die Schläfe und blickte wie um Hilfe in das unwettrige Gemenge vor dem Fenster.

Gregor musste schlucken und eine heiß aufblühende Röte griff würgend um seinen Hals. Haben wir uns falsch verstanden, fragte er, ich wollte nur keine falschen Erwartungen …

Ich habe keine Erwartungen, Sie betreffend, unterbrach Annalena ihn wieder. Aber, um Sie zu beanstanden in Ihrer Aussage, Gott und Wahrheit werden in Zuständigkeiten verhandelt, die einander ausschließen. Nun lächelte die Frau. Die Idee Gott und das Ist einer Wahrheit sind außerhalb faktischer wie denkbarer Komplementarität. Annalena streckte beide Hände nach Gregor aus, öffnete sie, wies ihm ihre Handflächen. In Gottes Hand, Gregor, ist der Himmel, ist’s auch, wenn er uns damit in die Hölle niederwirft.

Der Mann blickte in die offenen Hände der Frau. Er hätte sein Gesicht da hineinlegen mögen und mit seiner Zunge über die Herzlinien tasten. Es ist gut, dass du noch weißt, dass ich Gregor heiße, sagte er.

Woran denkst du?, fragte sie. Gregor? Sage es mir!

Dass es gut ist, dass du noch weißt, dass ich Gregor heiße, sagte er, daran denke ich.

Und woran denkst du wirklich?, fragte sie. Sage es mir!

Der Mann wünschte, dass der Mops in anspringen möchte, dass ein Fenster bersten möge unter dem Anprall von Wind und Regen und dass die See bis zu ihnen hinauf ins Restaurant gepeitscht würde, dass ein Himmel oder eine Hölle auch ihnen zugewiesen würde, oder auch nur ihm allein, und das mit all ihren Zwängen, und das nur, damit er die Frage der Frau nicht beantworten musste, denn er durfte und wollte und konnte nichts anderes sagen als die Wahrheit, und die  …

Haben Sie mich nicht gehört, Gregor?, fragte sie. Sie zog ihre Hände zurück, legte sie dem Mops auf Kopf und Nacken, bewegte die Finger. Und der Hund machte eine Miene wie Oskar, wenn seine Olle ihm die Bolle krault, wie’s im Kietzjargon heißt, wenn einem mit einer Berührung der Brägen heiß gemacht wird und’s sich einem so ins Gesicht, und sei es auch ein Mopsgesicht, schreibt. Gregor, fragte die Frau, woran denkst du?

Wie es wäre mit dir im Bett, antwortete der Mann Gregor, daran denke ich.

Annalena sah ihn an wie – so hatte seine fünfjährige Schwester geguckt, als dem Weihnachtsmann bei der Bescherung die Larve vom Gesicht rutschte und sie den Schweineonkel Paul erkannte; und dem sie danach zeitlebens misstraute – nach einem Stromschlag; sie blinzelte, lächelte und rückte Oskar aus ihrem Schoß und ihr Atem blubbte über ihre Unterlippe. Was?, fragte sie.

Ich denke daran, wie es ist, wenn wir ficken, sagte Gregor. Auch er blinzelte, lächelte und stieß seinen Atem in Schüben über die Unterlippe aus. Und er sagte, die Wahrheit ist ein sprödes Kind, weil wir doch bessere Lügner sind.

Ja, dann wollen wir’s mal! Annalena stand auf, nahm den Mops an die Brust. Leg einen Zehner auf den Tisch, sagte sie und strich Gregor flüchtig übers Haar, wir haben nicht Zeit, um sie zu vertrödeln. Sie ging ins Freie.

Bei dem Wetter?, rief er ihr nach.

Sie zuckte die Schultern, verschwand nach draußen in den Regen und den Wind.  

Der Zehner reichte nicht aus für die Zeche, schließlich hatten sie auf der Seebrücke von Heringsdorf diniert, inklusive vor den Usedomer Kaiserbädern und über dem Meer, das pushte den Preis. Einen schönen Hund haben Sie, sagte die Kellnerin, als er den Zehner gegen einen Zwanziger austauschte und aufs Wechselgeld abwinkte, ein echter Mops geht über hundert Dalmatiner.

Genau, sagte Gregor, besonders wenn er Oskar heißt und den religiösen Wesenstest mit summa cum laude bestanden hat und keine Weißwurst von einer Blutwurst unterscheiden kann.

Was?, fragte die Kellnerin.

Was was?, gab Gregor zur Antwort.

Annalena wartete auf ihn unter dem Dachüberbau des Restaurants. Aber auch bis dorthin trieb der Wind den Regen und auch Flocken von der Gischt auf den Wellenkämmen. Oskar miefte verängstigt. Der Frau einen Arm um die Schultern zu legen, überwand sich der Mann nicht. Aber sie schritten eng Seit’ an Seit’. Er spürte die Bewegung ihrer Hüfte und dort, wo er das spürte, auch einen Schub Wärme von ihr in sich dringen. Einmal musste Gregor Annalena stützen und hielt sie und Oskar für Sekunden in seinen Armen, weil sie über eine gelockerte Bohle stolperte. Aber da waren sie schon durchnässt, und sie achtete mehr darauf, dass ihr Haar und die Locken an ihren Schläfen die Fasson hielten als auf den Weg oder darauf, dass sie ihren Hund auf den Armen behielt. Die Einkaufspassage durchschritten sie, ohne innezuhalten. Gregor nun immer einen halben Schritt hinter Annalena, die eine grauslige Freude daran zu entwickeln schien, schneller voranzukommen ihrem Ziel entgegen. Und als sie auf der Promenade noch an Tempo zulegte, dachte er, dass sie’s aber nötig haben musste und dass Mann Frauen mit Hund nie unterschätzen dürfe und dass er vorher noch auf das von ihm gebuchte Zimmer musste, um das Sildenafilpräparat zu schlucken. Sie duckten sich gegen den Wind, den Regen und gingen endlich, als sie das Steigenberger erreichten, im gleichen Schritt nebeneinander.

Vor der Eingangstür lehnte sich die Frau für einen Herzschlag an den Mann, und auch der Hund reckte die knautschige Schnauze nach ihm, als wäre er der Führer und Retter aus dem unwettrigen Schlamassel gewesen. Du musst zu mir aufs Zimmer kommen, sagte Annalena und deutete auf Oskar. Die Hundeetage. Neunnullsieben. In zehn Minuten.

Sie verschwand allein in den Lift, denn Gregor wurde an die Rezeption gerufen. Es lag eine Nachricht für ihn im Fach. Es war ein gefaltetes Blatt. „Hi Opa“, war darauf geschrieben. „Habe heute Abend Party. Morgen auch. Viel Glück. Clari“

Er schluckte das Erektionselexier, noch bevor er die nassen Sachen vom Körper zog. Und als er den Föhn mit höchster Heizstufe über sein Haar bewegte, pfiff er einen Parademarsch derart intensiv, dass davon ein ganzes Regiment auf Angriff getrieben worden wäre, hätte er es denn vor so einer Formation so vermocht. Für alles offen und für jeden Spaß zu haben, das bin ich auch, sagte er zu seinem Spiegelbild, als er das Zimmer verließ; und er dachte, dass eine Weiblichkeit vom Hohlbeinschen Typus, wie Annalena sie in natura bot, mehr Feuer entwickeln mochte, als eine aufgespeckte Rubenstype.

Die Tür zum Zimmer 907 war nicht eingeklinkt. Oskar lag rücklings im Sessel, hielt die Pfoten aufgereckt und schnarchte. Er hörte die Frau im Bad hantieren. Sie musste nackt sein, denn ein fleischfarbener Slip lag ihrer nassen Kleidung obenauf, die nachlässig auf die Ablage vor dem Spiegel gestapelt war. Ihm war wieder danach, den Marsch zu pfeifen, den er vor Minuten auf seinem Zimmer gepfiffen hatte, aber Oskar hatte, ohne dass er das Schnarchen noch seine Stellung veränderte, einen entscheidenden Trumpf dagegen; der Hund nieste zwischen den Schnarchern derart eruptiv, dass es ihn zu zerreißen drohte. Gregor hob beschwichtigend eine Hand, hielt den Zeigefinger der anderen vor seine Lippen, näherte sich der Tür zum Bad auf Zehenspitzen. Ein erster Schub von der Wirkung des Sildenafils durchpulste die Adern seines Unterleibs. Und er schlug die rechte Faust in die linke Hand; aus dieser Nummer würde was werden!

Und dann nieste der Hund wieder, und die Tür des Badezimmers wurde aufgestoßen, und Annalena stürzte mit einem Handtuch in den Händen heraus zum Mops. Sie versuchte, es über den Hund zu decken. Aber der zog die aufgereckten Pfoten keinen Millimeter ein. Mensch, Oskar, sagte die Frau, sei doch nicht so stur.

Gregor sah die nackte Rückseite der Frau. Und die war so, wie er’s mochte in Form und Fleisch. Und er sagte, ich bin zwei Minuten zu spät, ist das ein Problem?

Die Frau reagierte nicht, vielmehr wirkte sie, als gefriere sie ein in ihre Haltung, als versteine sie. Der Hund schnarchte, nieste und schnappte einmal die Kiefer auf und zu.

Aber ich schnarche nicht, sagte der Mann, und gegen Schnupfen bin ich immun.

Der Frau fiel das Tuch aus den Händen. Es rutschte zwischen die Pfoten des Hundes, bedeckte den Bauch und die Schnauze.

Ich wollte dich nicht erschrecken, sagte Gregor, aber die Tür stand offen.

Das war Absicht, sagte die Frau.

Der Mann sah, wie ein Nerv neben der Wirbelspur des Rückgrats zuckte, als wolle es sie in der Vertikalen spalten.

Aber ich hatte es mir anders gedacht. Annalena streckte sich, verfaltete die Hände im Nacken. Gegen Schnupfen bist du immun, sagte sie, dagegen auch? Sie wandte sich um, bot ihm ihre Vorderseite.

Das hatte er erwartet und im Voraus ein Lächeln dagegengesetzt. Er begann, mit einer Hand das Hemd aufzuknöpfen und langte mit der anderen zu den Schuhen hinunter, um die Schnürsenkel aufzuschlaufen. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen. Und er sah – und als er begriff, was er sah, traf ihn der Puls in seinen Lenden wie ein Peitschenschlag, der seine aufkeimende Erektion zerfetzte – dort, wo er ihre Brüste zu sehen erwartet hatte, die Haut links wie rechts, wobei sie linkerseits dunkler, frischer, gefährlicher wirkten, von Narben durchzogen, die sich in zwei blasphemisch dekorativen Kreuzzeichen vereinigten. Gregor schluckte, stolperte einen Schritt voran.

Annalena verblieb in ihrer statuenhaften Haltung, ihre Arme wirkten wie die Knochen von Schwingen, denen die Federn entfernt waren.

Der Mops nieste. Im Bad polterte etwas Gläsernes auf die Fliesen.

Und obwohl der Mann darauf starrte, konnte er die Struktur der Schambehaarung der Frau nicht erkennen.

Glaubst du immer noch, dass Gott eine Erfindung ist?, fragte sie. Sie bewegte die Arme, als müsse sie sich aus einer Fessel winden, um ins Bad zurückgehen zu können. Ich brauche noch fünf Minuten im Bad, sagte sie. Sie strich mit den Fingern ihrer beiden Hände über die Narben. Die linke Brustwarze wäre zu erhalten gewesen, sagte sie, hätte dir das was leichter gemacht?

Der Mann wollte antworten, aber er kam nicht auf Stimme. Die Finger seiner linken Hand schoben den schon ausgelösten Knopf ins Loch zurück. Und er dachte, dass er achtgeben musste, nicht auf die gelösten Schnürsenkel zu treten. Ich weiß nicht, brachte er dann doch hervor, ob ein erfundener Gott so grausam sein kann.

Keine Metastasen, alle Befunde negativ, jede Aussicht positiv, wieso sollte das grausam sein? In der Badtür wandte sie sich ihm wieder zu. Egal, ob du die fünf Minuten auf mich warten kannst oder ob Sie es nicht können, sagte die Frau, die Tür sollte ob so oder so geschlossen werden.

Das tat der Mann. Eineinhalb Stunden später hatte Gregor T. alles aus der Schrankbar seines Zimmers in sich reingegossen, das den Verdacht auf Alkoholgehalt rechtfertigte. Nach Mitternacht wachte er auf. Er hörte, wie in einem Zimmer in der Nähe von einem Mann ein Orgasmus außerhalb Zimmerlautstärke zelebriert wurde. Ihm war übel, aber es gelang ihm, das zu ignorieren.

Am Morgen unter Dusche ging es ihm nicht besser. Und mit der Erinnerung an die Traumsequenz, in der er auf einem Markt an einem Stand Attrappen von Brüsten üppigster Formate vor Leuten anbot, die ihm bekannt waren, er hielt die Brüste dafür über seinen Kopf und presste Milch aus den Brustwarzen, die in einem sämigen, warmen Strahl in seinen Mund strömte, wurde es ihm so schlecht, dass er sich bekotzte. Er spülte das mit der Handdusche von sich ab; aber so sauber, wie der Mann sich brauchte, wurde er nicht.

Warum er im Fahrstuhl die Neun drückte und nicht die Taste fürs Erdgeschoss, wo sich der Frühstücksraum befand, erklärte Gregor sich nicht. Die Tür zum Zimmer 907 stand offen. Drinnen wurde gesaugt. Und er glaubte, die Abdrücke seiner Füße aus dem Zimmer hinaus und weiter den Korridor entlang und hinaus bis an den Ereignishorizont wie eine eingebrannte Spur wahrzunehmen; und er glaubte, er höre Annalenas Stimme und dass sie ihn wieder fragte, ob er noch immer sagen wolle, dass Gott eine Erfindung sei?

An der Rezeption konnte ihm genaue Auskunft darüber gegeben werden, wann die Dame von der 907 ausgecheckt hatte, denn an den hässlichen Hund musste man sich in hundert Jahren noch erinnern; vor exakt einundzwanzig Minuten, aber trotzdem das Taxi gleich gekommen war, dürfte sie den nächsten Zug nicht mehr erreicht haben.

Sieben Minuten später fuhr Gregor den X1 vor den Eingang des Heringsdorfer Bahnhofs, die Ausschilderung auf Halteverbot und die Sperrflächenmarkierungen ignorierte er. Annalena stand an der Bahnsteigkante und wippte auf den Sohlen. Die Haarlocken an den Schläfen waren eng an die Haut frisiert. Oskar hielt sie kurz an der Leine. In der Morgensonne funkelten das vom Nachtregen noch nasse Laub, die blank gefahrenen Gleise und die Pfützen auf dem Bahnsteig um die Wette. Wie frisch geputzt bot sich der Ort, wie hergerichtet für einen Tag, an dem alles gelingen konnte. Gregor trat bis auf einen Schritt hinter Annalena. Oskar bemerkte ihn, er verzog seine Knautschzone eindeutig missfällig, gab aber keinen Laut, rückte nur näher gegen Annalenas Beine. Die Frau wippte von den Ballen auf die Hacken und wieder zurück und so hin und her und summte dabei die Melodie „Wenn ich ein Vöglein wär …“ Und der Mann hinter ihr sang leise dazu „ … flög’ ich zu dir“. Annalena zuckte, riss die Arme um ihren Leib. Dadurch balancierte sie den Schwung nach vorn auf die Ballen nicht richtig aus und kippte vornüber. Gregor musste sie von rückwärts ganz umfassen, damit er sicher verhinderte, dass die Frau aufs Gleis stürzte. Der Hund sprang zur Seite, zerrte an der kurzgehaltenen Leine, bellte.

Ich habe die Zeit vergessen, als ich im Bad war, sagte die Frau, ich habe dich viel zu lange warten lassen.

Der Mann rieb seine Stirn an ihrem Haar, bis er den Perückenboden, der von ihrer Wärme durchdrungen war, auf seiner Haut spürte.

Ich habe mich nicht finden können im Spiegel, sagte die Frau. Sie lachte heiser.

Gregor verriegelte seine Hände vor ihrem Körper. Er sagte, wir müssen uns woanders finden als in Spiegeln.

Wir?, fragte Annalena.          

Später sahen der Mann und die Frau den Zug in den Bahnhof einfahren, und sie sahen ihn ausfahren. Gregor verstaute den Koffer der Frau ins Auto, und Annalena zupfte den Strafzettel, der wegen einer begangenen Ordnungswidrigkeit unter das linke Scheibenwischerblatt gesteckt worden war, von der Frontscheibe. Er fiel ihr aus der Hand, und der Hund, Möpse haben dafür ein bestens geeignetes Gebiss, zerfetzte das Papier mit wahrhaft tierischer Leidenschaft.

Als sie zum Steigenberger zurückfuhren, hörten sie aus dem Radio die Wetterinformation, die nach dem Unwetter des vergangenen Tages insbesondere für die Insel Usedom einen sonnigen Tag voraussagte.


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