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1938. Verso

Eine Novelle zu dem Zeichner Paul Holz (Auszug)

Im leeren Bildraum sitzt da Holz. Holz als Halbfigur. Halbfigürliche Skizze auf der Rückseite einer Zeichnung. Nicht zum Vorzeigen bestimmt, ein Verso, das Nichtzeigen ist seine Bestimmung. In Holz’ Oberkörperstudie gelangt ein Zucken. Es bemächtigt sich Holzens das Zucken eines lautlosen Lachens, es ist diese Weise von Lachen, die mit dem Gegenteil von Lachen einhergeht, mit dem grundtiefen Elend. Erwartbar ist der Tod, das gilt ab der Geburt. Für Holz in Schleswig, für Holz im Januar Neunzehnachtunddreißig ist der Tod keine vage Vereinbarung mehr, sondern abgemachte Sache. Holz hat aufgegeben, nämlich sich. Der Schiffer Skaaro, versinkend im Moor, er wehrt sich nicht mehr.

Dass es schlimm steht um Holz, womöglich Lea, Lea mit dem dürr durchschauenden Blick der Jatznicker Hauptlehrerstochter, die könnt eine Ahnung haben. Das Wissen, wie schlimm es um ihn steht, hat Holz ganz für sich. Weiterzuleben, nee, dat wär een littel bit tau veel verlangt. Der Bauerschiffer Skaaro, vom Moor bis zum Oberbauch eingesaugt, hat schon vor einer Weile aufgehört notzurufen, dann die Taschenuhr hervorgezogen, sie schön abgetrocknet und in eine höhere Tasche gesteckt.
Die Todesgewissheit teilt Holz mit niemandem. Der Tod wird wünschenswert plötzlich zu ihm kommen. Holz wird von seinem Tod überrascht werden. Das sieht er voraus. Kein monatelanges Hinsiechen wie bei Wilhelm, dem an der Knochentuberkulose hingegangenen Bruder. Ein Sterben, kein Versterben. Der Wilhelm, der seit zwölfeinhalb Jahren auf Uhlenkrugs Friedhof in Gott ruhet und als lieber Mann und als guter Vater und als pommerscher Landwirt und achtzehn Schritt von den Eltern. Der ist verstorben, eine quälende Mählichkeit. Holzens Tod wird alsbald sich einstellen, Holzens Tod sucht für sein Erscheinen noch einen unorthodoxen Ort, des besseren Effekts wegen. Holz ist zum Glück nicht sehr gesund, womit Voraussetzungen gegeben sind. Die Todesart ist allerdings offen. Tod durch Schlagfluss wär eine Todesart von allgemeiner Nachvollziehbarkeit. Tod an geplatzter Kopfader und ohne Sterbenswörtchen. Es ist Holz gleichgültig, welche Bezeichnung in seinem Todesfall den Vorzug erhält. Weg mit mir, denkt Holz. Tod durch Tod, Punkt. Für Tod durch Ersticken im Morast der Umstände ist kein Ankreuzkästchen im Formular des den Tod feststellenden Arztes. Wie auch immer, wer sein, Holzens, Ableben bedauern wird, der wird mitbedauern, wie früh Holz mit dem Tod eins gewesen ist. Vierundfünfzig sei kein Alter. Wenngleich, ein Leben der Koexistenzen, Lehramt bei Tag, Zeichner unter Tage, verausgabt schleunig sich. Das Problem der Doppelpersönlichkeit, ein mathematisches.

Vor seinem Tod wird Holz zum Kegelabend erscheinen müssen. Heut, Klock sieben, aufbrechen müssen, um zu kegeln. Ordentlich Holz machen, wird in Namensanspielung geneckt werden, einmal mehr, was einmal mehr mit einem Lächeln zu erwidern ist. Dieser Dienstagabend ist dem Kegeln vorbehalten, nicht dem Tod. Mit den Kollegen von der Domschule und sogenannten Freunden sind Kegel umzustoßen. Holz wird der Sympathische sein, der Freundliche, den er nur noch spielt, seit er aus Breslau hat weggemusst und die Stelle als einfacher Zeichenlehrer in Schleswig, Nordfriesland, angetreten. Holz wird auch an diesem Abend an der Perfektionierung einer Rolle feilen, um dem zu entsprechen, als welchen man ihn zu kennen meint. Unkompliziert, kein Stück übelnehmerisch. Ein als Kleinbürger verkleideter Bauer, Knickerbocker und einen Westover über weißem Hemd und blauem Schlips. Holz als Randerscheinung. Der Hemdkragen umspannt seinen Hals wie eine Kompresse. Der Schlipsknoten ist akkurat. Fast bis zum Schielen fest, entäußert sich, Schlipsknoten betreffend, Keglerwitz. Staunen erregt die Makellosigkeit des Schädels, dessen man so schiebermützenbloß selten ansichtig wird. Perfekte Kahlheit, andererseits mit Haaren nicht vorstellbar. Dem passt die Glatze.

Holz soll unschuldig umkegeln. Ab und an und aus Versehen auch den Königskegel, dabei nie Sieger sein. Soll trinken nicht, wegen Gefährdung von Nüchternheit. Soll ein Unauffälliger sein, ein stiller Teilhaber, Herzbeklemmung in nichtbeobachteten Momenten wegmassieren.

Holz unterzwingt das Elendlachzucken im Körpergehäuse, begradigt den Rücken um wenige Grad. Mit wem von denen sollt er auch trinken, und warum, und worauf.

Durch das Lichtgitter seiner Wintermigräne sieht er die Einrichtung herbei. Blick füllt Stück für Stück Bildraum auf.

Der Tisch steht stabil, vier Beine im Kreuzgriff. Ein stabiler Tisch, sagt Holz, sei hinreichend. Was braucht der Nurzeichner ein Nuratelier mit natürlichem Nuratelierlicht, wenn er nachts unter dem Glühlampenvollmond mit sich allein sitzt und die Rohrfeder in der Luft den treffenden Strich suchen lässt. Wär die reine Platzverschwendung und die reine Lichtverschwendung. Seit Stettin hat Holz einen Raum für sich, seit Breslau und nun in Schleswig ist ihm der Raum auch Schlafplatz.

Der Tisch macht als Werkbank nützlich sich, sind die Luftstriche dem Papier anzuvertrauen und Unterarme abzulegen. Der Tisch muss die Ruhe bewahren, wischen unzufriedene Unterarme das Papier von ihm, und der Dielenboden füllt sich mit Blättern. Dann wird umrundet der Tisch, trägt Holz das Rohr quer im Atemschlitz. Der Tisch muss darauf vorbereitet sein, bezeichnet zu werden, wenn das Format expandiert und die Zeichnung über den Blattrand hinausgehen muss. Des Nachts Holz zu Diensten zu sein, darin sieht der Tisch seinen Zweck. Tagüber gibt der Tisch harmlos sich, erträgt schlenderndes Gespräch, Kaffeetassen und Korrektur von Schülerarbeiten.

Das der Tisch, ein multiples Möbel.

Da die Quetschkommode. Uns Paul ist krank, uns Paul ist krank, er liegt im Fieber, stirbt er mir, dann gräm ich mich sehr.

Das die Quetschkommode, bestäubt im Zimmereck.

Da die Zeichenschränke, simpel, schmucklos.

Da die Wirbelsäulen der Bücher, in Schräglage.

Da die Vase mit dem Bündel Schilfrohr, unangeschrägt.

Da die Bauerntruhe von ehedem. Die barock ist und blau mit zwei roten Streifen. Ein rotes Viereck auf der Fläche. Die Truhe ist Ende achtzehntes Jahrhundert und weiß also mehr als Holz. Unten ist der Truhe die Form von Schlittenkufen angetischlert worden, sodass einen Holz die Lust anfallen könnt, aufzusitzen und, von einem Hexenzauber angestupst, abzusausen, wegvonschleswig.

Seinen Schatz zwischen die Beine geklemmt, so würd nehmen Holz den Lüfteweg. Huh, was ein Fauchen an den Ohren, eine Lebendigkeit käm in ihn, als hätt gerad er einen Schnaps gehabt in Kalbs Kneipe und gleich noch zwei und wär glücklich unnüchtern statt unglücklich nüchtern. Weg von Schleswig, Schleswig ist Sibirien. An Kiel fliegen vorbei, zwischen Hamburg und Lübeck durch. Direktflug über Berlin, wo ihm eine glatte Examenseins eingetragen worden ist, auch in dem Fach Schultafelzeichnen. Menschen unter Holz benehmen sich wie magnetisierte Späne, Verstreute und Wiedervereinigte. Dass damals er, Holz, leidlich jung, obschon der Hinterkopf blinzelte, wollt den Zille mit einem Besuch in der Sophie-Charlotten-Straße verehren und von dem, der krank lag und ungnädig, weggeschickt worden sei, könnt so gewesen sein, muss aber nicht. Das Merkbuch in Holzens Gehirn wahrt Stillschweigen. Berlin war zille und vif, dereinst, das Berlin da unten ist laut und blöd.

Kurs hielte die Truhe glückwärts, Schlesien im Frühling. Breslau, Novastraße, die Nummer sechs. Beim Scheitniger Park, nah der Fürstenbrücke, fand Holz ihre erste Wohnung in Breslau. Lea kam mit den beiden Mädelchen aus Stettin nach, und sie waren endlich wieder Familie.

Von oben betrachtet sieht der Hut des Vagabunden, der im Grün des Laurentiusfriedhofs an einem Stein sitzt, wie das Rad eines mittelschweren Wagens aus, ein Wagenrad, dem zwei Beine angewachsen sind. Unter so einem Hut lässt sich sterben. Grabstein und Beine des Friedhofstramps sonnen sich. Ein schwacher Wind wird durch die Hohlräume des Vagabundenkörpers eine Erzählung pfeifen. Am Vagabund lehnt eine Aktentasche, die solidarisch die zusammengesunkene Haltung eines Betrunkenen angenommen hat. Wärs eine Dostojewskierzählung, stürb der Vagabund auf Schlag. Wärs eine Gogolgeschicht, löste sich der Schemen des Vagabunden vom Grabstein ab, ständ mühsam auf, schüttelte sich in Form, nähm die betrunkene Aktentasche und ginge weg vom Vagabund.

Nun ritte Holz mit seiner Truhe einige Volten, bis er fänd den Nordnordwest. Überlandfahrt nach Stettin, gut windunterstützt. Stettin war vor Breslau. Stettin war Spaß und war Ernst. Da waren sie gerad verheiratet und finanziell herrlich am Limit. Stettin ist Hochsommer, auf ewig. Lea gab zuvor den Widerstand auf, der dem haus- und hablosen Bauernburschen von einer ehemaligen Internatsschülerin gebührt hatte. Hoch und schlank und selbstbezogen wie Hamsuns Edvarda hatte sie Holz über Jahre buhlen lassen. Dass das neue Museum an den Stettiner Hakenterrassen zwanzig Blätter von Holz ankaufte, machte Lea endlich Eindruck. Dennoch hielt sie ihn in der Einstweiligkeit eines Verlobungszustandes hin. Die Festung fiel, da befand sie leidlich noch auf der guten Seite der Dreißig sich. Exakt, als er vierunddreißig wurd, und sie war auch nur ein Jahr und einen Tag hinterher. Zeit für die Haube, höchste, meinten Jatznick und umliegende Gehöfte. Die müsse weg. Beide schauspielerten Eheleute, er weniger als sie, darum hatte sie ihre Sache besser zu machen als er. Die Christiane kam, Christel also. Gut zwei Jahre darauf die Barbara, ein Säugewesen im Mai. Nun hatte sie die Mädelchen und Spaziergänge am Westendsee, er die Kinder an der Gemeindeschule und der Bismarckoberrealschule, zunehmend seine Zeichnerei.

Pommersch gings fort, wär dies eine Lufttruhenfahrt und Holz ihr Flugzeuge. Fabelhafte Formation, fein radiert das Flickenwerk der Felder. Landstraßen, die sich nicht so recht an Automobile gewöhnen. Eine Alte säß munkelnd auf der Banke am Haus, Rheumatismus im System. Der Alte ständ an schiefem Staketzaun, offen dem Diktat der Natur gehorchend, zugleich Schauer und Deuter des Vogelflugs. Als Pommer unverkennbar. Dürr, steif, zäh. Gesicht gedörrt. Körperbau resultierte aus Wind, gegenanlaufend, und Arbeit auf armem Acker. Vordere Gliedmaßen waren entsprechend ausgeprägt. Die Alte säh dem Alten bei beiden Verrichtungen zu, Zaunanpinkeln und Vogelflugschauen. Zwei Alte, ein bauernhöfischer Figurenautomat.

Bei Uhlenkrug über dem Friedhof eine Spitzkehre vollführen. Einen Blick auf des lieben Wilhelm Grab, dem bald Holzens Urne beigesetzt würd. Nun über Wald, mehr Nadel als Laub, mehr Kiefer, aber Birke auch. Wald wär von einem gelben Weg gescheitelt. Sommer rostete schon. Ein Bauernpaar reuterte Heu. Riesenbrück wär aus der Höhe eine kleine Reihe Bausteine. Riesenbrück wär von Stettin ein Kurzflug und auf Sand gebaut und wo Holz herkommt. Der Holzhof wär der letzte Baustein. Ein blasshaariger Junge schnürte seinen Weg. Ein Mädchen fütterte Huhn und scheuchte Hahn. Eine Kuh ständ da, an jeder Ecke ein Bein. Die Kuh hustete, der Bulle rechts daneben malmte, hochglotzend. Rotbunt würd regen sich, Schwarzbunt stehen trotzig. Von jedem ein Paar, als wärs die Arche. Eine Sonnenscheininfusion über der Gebäudeansammlung. Wenige Häuser, doppelt so viele Spitzbuben. So ungefähr sagt man hier.

Würd er zeichnen sie, so hustete die linke Kuh nicht, wär nicht einmal zu einem kuhgemäßen Muhen imstand. Muhstumme Kuh. Rotbunt wär Schwarzweiß und gar nicht wie wirklich. Kuh in Grenzen. Kuh entwirklicht. Unkuh. Weil Naturkühe auf Papier nicht überzeugen. Wenn Holz die Kuh zeichnete, so tät er es erst viel später, nach Ablagerung im Merkbuch. Das Merkbuch befindet sich in seinem Hirn. Das Merkbuch in seinem Hirn hat einen schwarzen Einband mit gerundeten Ecken, seine Seiten sind mit Zwirn gebunden. Das Merkbuch hält Holzenes Gedächtnis in Schuss. Ein Gummiband soll das Merkbuch verschließen, tut es aber nicht, sodass das Merkbuch im Holzhirn zu eigensinnigem Aufklappen neigt. Das Merkbuch klappt auf sich, während Holzens Bewusstsein mit etwas ganz anderem beschäftigt ist. Im Merkbuch sind Skizzen von Merkwürdigkeiten. Das Merkbuch radiert die Merkunwürdigkeiten daran aus, ganz selbstständig. So verschwinden von dem Unwesentlichen das Un und das Tlichen und übrig bleibt ein Wesen.


Er ist ein solide gebauter Mann. Er ist kraftlos. Sein Gesicht hat subtil gearbeitete Areale und grob geschnitzte. Seine Augen glänzen und sind trüb. Er ist tags Lehrer fürs Zeichnen, nachtags Schüler im Zeichnen. Er ist ein Bauernsohn aus Pommern. Er hat Frau und Töchter. Seine Stationen sind: Pommernland, Stettin, Breslau, nun Schleswig. Er verlor am ersten April des Jahrs Zweiunddreißig die Lehrstelle an der Staatlichen Akademie für Kunst und Kunstgewerbe zu Breslau. Weil im Zuge der zweiten Sparverordnung die Akademie habe schließen müssen. Er wurd sofortwirksam am sechsundzwanzigsten April des Jahrs Dreiunddreißig beurlaubt als Studienrat des Staatlichen Friedrichs-Gymnasiums zu Breslau. Weil seine Qualifikation und also sein Beamtentum fragwürdig geworden seien. Er ist seither im Zustand einer Benommenheit. Er ist vierundfünfzig. Er ist nicht unaufrichtig. Er ist nicht provozierend. Er ist nicht aufsässig. Er hegt anarchistisches Desinteresse. Er überhört im Radio die Weltnachrichten. Er erhielt im Jahr Vierunddreißig die Versetzung an die Domschule in Schleswig. Er ist nicht schlechter gestellt, rein finanziell. Er ist erstaunt von der Stümperei des Schicksals. Er ist ein Bauernsohn, er stammt aus Riesenbrück, Riesenbrück bei Uhlenkrug, fünf Gehöfte. Beiderseits Großväter waren vorderpommersche Schäfer. Er hat um die dreitausend Zeichnungen angefertigt. Die Bewerbung um Aufnahme in die Reichskunstkammer wurd abgelehnt, was gleichbedeutend ist mit dem Entzug der Lizenz, Kunstwerke zu produzieren und zu vertreiben. Das Leben duldet ihn offiziell nicht mehr. Zeichnungen von ihm sind beschlagnahmt worden, aus Museen verbannt. Er ist erschrocken. Er wähnte seine Blätter unterhalb dessen, was als gefährliche Kunst beachtet wurd. Das alte Parlament in seinem Kopf gerät aber immer seltener in Aufruhr. Sein Biegepunkt ist erreicht. Er hat Frau und Töchter, zwei. Der Tod wird ihn dulden. Er ist erst vierundfünfzig. Er fordert keine Stundung, sondern ein Sterben zum nächstmöglichen Termin. Sein Name ist Holz. Paul Holz. Es ist Januar Neunzehnhundertachtunddreißig, der Achtzehnte.

Als Holz und Lea endlich unter sich sein sollten, eben getraut und in Stettin merkwürdig zu zweit, da verlor Lea an Berührungsempfindlichkeit. Mit der Ehe entkam Lea Jatznick. In Jatznick hatte Lea unter Anklage gestanden, Hochmut war ihr Vergehen. Die Art, wie sie den Kopf trug, ließ sie größer erscheinen, als sie ohnehin war. Die Art, wie sie den Kopf trug, reizte zu Vergleichen. Wie jemand, der im Ententümpel schwimmt und Acht gibt, dass ihm die Grütze nicht in den Mund fließt. Secht man. In ihrer Gegenwart erstürb jedes Mitteilungsbedürfnis. Kuschen Köter. Secht man. Würd sauer die Milch, ging das Brot nicht hoch. Wat Bessret. Man secht so. Kösters Tochter. Einzelkind. Das Fräulein Rührmichnichtan. Stolz sei ihre Todsünde.

Nun in Stettin, die kleinteilige Heimat in sicherer Entfernung, glichen ihre Küsse einer Fütterung. Gierig, unsauber, laut. Gar nicht ziemlich, gar nichts übrig war von jatznickscher Hochgeknöpftheit. Beischlaf ereignete sich aufs Geratewohl und ohne einen Deut gewährende Gnade. Fordernd, abverlangend. Die unkartierte Leidenschaft war Holz ein Wunder. Leas Leibeigenschaften bargen Überraschungen, unvermutete Einschnitte und Höhlungen. In ihrem Haar war Holz wie in einem Dschungel unterwegs. Ihr Haar, aus der Verklemmung befreit, führte ein eigenes Leben. Begoss ihn mit Pech und Feuer. Feuer knisterte. Holz verwusste sich nicht vor Glücksüberschwemmung. Die Frau, die Holz liebte, schien Holz zu lieben. Er genoss den Ausdruck kindlicher Gespanntheit in ihrem Gesicht, was als Nächstes komme. Die Wohnung war so winzig, dass sich der Haushalt vom Bett aus erledigen ließ. Auf seinen dünnen Oberlippenbart bestand Lea, der kitzele sie so schön durch. Dass Lea Beine hatte, bestätigte sich. Beine, wie sie Holz zuvor nur im Nebelflor tagträumender Vermutungen hatten erscheinen dürfen, lang und mit schmalen Fesseln. Leas Beine waren glatt und haarlos, sah er behaarte Damenbeine, dachte Holz an schlecht gerupfte Hühner. Leas Beine hätten können zu Bereimungen und Schlagermelodien verleiten, wär Holz eines dieser Mischtalente und ein Absolutzeichner nicht. Leas Unberechenbarkeiten, ihre Großstädtischheit verdutzten Holz. Morgens, wenn er ihr Haar auskämmen durft, wurd er manchmal nachdenklich. Machte sich Holz auf den Schulweg, steckte Lea ihm zum blonden Brötchen einen Block Blockschokolade in die Tasche, oder einen Strumpfhalter. Zum Abschied stieg sie auf einen Stuhl und hielt ihm die Kehlen ihrer Knie zum Beküssen hin. Immerhin handele es sich um Reizknie. Stettin, Blumenstraße, es war das Jahr ihres Erkennens, das Jahr Achtzehn. Christel kam folgerichtig.

Mit dem Nachzug ihrer Eltern holte Jatznick Lea wieder ein. Die Flucht erwies sich als Fehlschlag. Der alte Kruse, schlachtschiffgrau, sein Umfeld mit einem Schnörkel schwarz bewahrter Augenbrauen bedenkend, hatte sich zur Pension geschulmeistert und wollte nun kein Straßendörfler sein, aber ein Stettiner Bildungsbürger. Seine Elisabeth verfügte über die Großbrüstung und das mopsmäßig ausgeformte Gesicht einer gestrengen Richterin in Fragen der Moral sowie über ein Arsenal von Ausrufen bassen Entsetzens. Man hatte gute Absichten, sonder Zweifel. Der Kruse wollte in Enkelinnähe hilfreich sein und gut, die Kruse hornhäutig großmuttern.

Lea verbollwerkte das Gesicht. Lea rekonfigurierte das Haar. Lea legte an Berührungsempfindlichkeit zu. Erlitt Anfälle von Schweigsamkeit. Lea war in ihrem Innersten beunruhigt. Es gelang Holz nicht, Lea zu beruhigen, diese Bezirke ihres Inneren waren Holz verschlossen. Die neue Wohnung, Mühlenstraße sechs, vier Zimmer und Balkon, zwang günstig, weniger nah beieinander sein zu müssen. Holz hatte einen Raum für sich und Lea drei Räume. Holz hatte das alte Bett aus der Heimat, Lea ein modernes. Holz rasierte die Oberlippe kitzelfrei, dieser goldene Bart hatte ohnehin nie den Ehrgeiz zu einer Buschigkeit entwickelt, eine maisfädige Enttäuschung. Holz ging zunehmend ins Irrenhaus, zu Skatzusammenkünften, in Kneipen auch. Immer das Merkbuch dabei.

Dass Holz lieber mit ungepflegten Leuten an bierklebrigen Tischen trank, als in feiner Gesellschaft gepflegte Konversation zu genießen, war Lea ärgerlich, etwas. Dass er, erstens, feine Gesellschafter Liebhaber ihresgleichen nannte und sich, zweitens, in Abendgarderobe eher verschalt denn angezogen fühlte, fand sie, erstens, nicht gerecht und, zweitens, zumutbar. Dabei konnte er ein glänzender Unterhalter sein. Wenn er ein paar Schnäpse hatte. Ein paar Schnäpse nur, in knappen Abständen eingenommen, begabten ihn zum Anekdotenerzähler. Der Pegel in Leas Weinkelch sank langsam und stetig, als wärs ein Stundenglas.

Dass Holz nebenbei freihandzeichnete, nahm Lea zur Kenntnis, als sei es eine Grille von ihm. Daran herumvernünfteln wär nicht nötig, spontanes Empfindungsniederzeichnen verwüchs sich im Alltag. Später musste verkraftet werden, dass es einen Teil seines Lebens immer geben würde, der nur ihm gehörte und sie ausschloss. Sein Zeichnen war ihm mehr als ein Brimborium. Den Nachtholz abschaffen zu wollen, wär so absurd, wie etwas gegen seinen Haarausfall zu unternehmen. Der war ein Triebzeichner, nicht therapierbar. Nach Brot mocht er mit seinen unbunten Zeichnungen nicht gehen, das war ein Trost. Andernfalls wären sie alle vier verhungert. Was er zeichnete, machte ihn ihr fremd, gegen einen Fremden als gelegentlichen Bettbesucher war nichts einzuwenden. Lea hatte Ordnung in ihre Erwartungen und Vergnügungen gebracht.


Die Paranoia der Nacht. Im Unterholz der Stadt unterwegs. In sich gekehrte Trinker kamen entgegen, ihm mit schlecht berechneten Bewegungen ausweichend. Ein Lahmer in seinem Trochäus. Banditen, Künstler, Ungestalten. Weibsbilder mit Missionen. Eine merkwürdige Skulptur im Hausschatten war ein in sich verkrüppeltes Liebespaar. Eine nicht mehr besonders gefragte Hure kümmerte sich im Spiegelchen um Lippen und Nase, übte das Berufslächeln. Ihr Kleid war dezent fleckig. Der Bettler mit mehrtägigem Bart über einem blatternarbigen Arrangement, verfilzt-borstig, bedeckt mit Fetzen und Moos, fast schon zu einem Naturding zurückgebildet, glubschte nach Schlingbarem im Rinnstein.

Holz streunte durch halbbelichtete Straßen, Bahnhofswartesäle vierter Wagenklasse. Tat in den offenen Handteller eines verwachsenen Nachtlebewesens, das mit vergilbten Augäpfeln bat. Jeder Atemzug ein Stückchen Katzenmusik. Könnt der Herr entbehren eine halbe Mark? Holz wehrte das Herausgeld ab. Das Wesen sang Lobe diesen Herrn. Danach rauchten sie je eine Zigarette.

Die Hure schlenderte in ihrem Hurenschritt heran, das Berufslächeln hatte schläfenwärts ein Faltenwerk zur Folge. Holz steckte ihr einen eingerollten Schein in die Hand. Sie entrollte den Schein, besah ihn und fragte Holz, ob er etwas Extraes wünsche. Holz bejahte, er wünsche, die Hure würd nach Hause gehen und sich ausschlafen. Sie sagte, sie wisse nicht, ob sie einen so ausgefallenen Wunsch erfüllen könne, sie sei Vertreterin eines vorbildlich geführten Hurenhauses und gewohnt, für ihr Geld körperlich zu arbeiten. Holz fragte, ob sie damit einverstanden sei, ihm als Gegenleistung für den Schein ein Kniestück von sich vorzuzeigen. Das wolle er sich einprägen und später zeichnen. Die Hure war einverstanden.


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