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Schöne Tage. Böses Wasser

Kann mich nicht erinnern, dass ich je Bock gehabt hätte, mit Pa und Ma und Schwesterlein Miou in Urlaub zu fahren. Ich wär schon mit sechs lieber zu Hause geblieben und hätt mir Videos die Menge reingezogen, als bei Antalya die Hunde auf der Promenade zu zählen. Aber nun, das haben sie versprochen, sollte es zum letzten Mal sein, dass ich die Familie im Urlaub komplettiere, weil ich doch sechzehn bin seit dem 1. Mai und einen brauchbaren Realschulabschluss gebaut habe, was mir kein Pa und keine Ma zugetraut haben, und weil ich für die Lehre ausm Haus geh nach Velden am Wörther See ins Hotel Angela, wo ich dann der beste Koch überhaupt werden werd. Und versprochen haben sie, dass ich der Käpt’n bin die vierzehn Tage aufm Boot, das Pa übers Internet angemietet hat, dass ich das Sagen hab, wos langgeht auf der Mecklenburger Seenplatte, und auch die andern Kommandos geben darf. War schon ne geile Vorstellung, das, wie ich da steh am Ruder undn echten Skipper geben darf. Und war mir egal, dass Pa so mehr Zeit für sich und Jenseits von Gut und Böse rausschlug, den Nietzsche-Schmöker, den er, seit ich denken kann, immer im Urlaub hat noch mal lesen wollen. Und dass Ma, die sonst ja in alles reinreden muss, dicke versprochen hat, sich nur um ihr Hobby zu kümmern, also auf dem Vordeck stehen würde mit ihrer Staffelei und ansichtskartengroße Bilderchen von der traumhaften Landschaft in traumhaften Farben auf die Kartons kleisterte. Und mit meinem 8-jährigen kurzhalsigen Monster von Schwesterchen würde ich schon fertig werden, mindestens eine Stunde Kombüsendienst nach jeder Mahlzeit war ihr sicher; das Mioulein würde miauzen vor Gnatz und Grant. 14 Schöne Tage wollten wir uns machen, das haben wir uns noch am Abend, bevor wir aufbrachen ins deutsche Indianerland, versprochen. Und ehrlich, von mir wars ehrlich gemeint. Pa und Ma hatten ne Ausspanne nötig. 11 Monate inklusive Wochenendbereitschaft und Schmerzdienst an ausgesuchter Kundschaft; andern Leuten an den Kauwerkzeugen rumzuklempnern, das muss doch die Nerven blank machen. Und dann noch in gemeinsamer Praxis mit nur einem Klo. Ich kann mich erinnern, dass sie mal Liebling zueinander gesagt haben, aber nicht daran, in welchem Jahrhundert das war. Keine Ahnung. Dazu hatten sie dann noch den Problemsohn Kurt, mich. Aber kann einer, den man 19neunundachtzig auf den Namen Kurt taufen lässt, etwas anderes werden als ein Problem? Aber das Sahnehäubchen zu allem haben sie sich mit dem Herzliebkind Miou, meinem kurzhalsigen Schwestermonster gebastelt. Ich weiß nicht genau, ob sie uns lieben, so, wie sies tun vor andern, aber auf alle Fälle nimmt mans ihnen, so wie sies sagen, ab; und warum sollten sie lügen? Aber warum, und das ist die schärfere Frage, sollten sie uns lieben? Nur weil sie einmal und dann noch einmal acht Jahre später ihr Vermehrungspotenzial voll ausgespielt haben? Oder hatten sies einfach nicht im Griff? Reden kann mit ihnen darüber nicht. Es ist passiert, sagen sie, und wenn ein Zahnarztehepaar sich nicht zwei Kinder leisten kann, wer dann? Deswegen, weil sie sich einen Kurt geleistet haben, bin ich mal voll abgedreht in der Achten. In der großen Pause bin ich nach Hause und hab ne volle pulle Tequila aus Pas Tischbar leer gemacht, ohne Zitrone, ohne Salz, nur gluckgluck bis auf den Grund. Und bin noch in die Schule zurück. War aber alles schon dicke da. Haben sie gedacht, dass ich sterbe und dass ich was zurückbehalt davon im Kopf. Aber zwei Tage später war mir so klar wie noch nie. Und sie haben sich danach viele und große Mühe mit mir gegeben; gabs kein Meckern mehr wegen der Chaosordnung in meinem Zimmer und dass Silvi halbe Nächte bei mir abhing und die Bude vollqualmte; war ja mein Ding auch nicht, aber bei ihren Alten war Krieg angesagt von morgens bis abends, und sie hatte nicht die Nerven dafür, und außerdem konnte sie es echt gut mit ihrer rechten Hand, aber mehr gabs nicht bei ihr, nicht mal anfassen und so was. Pa und Ma waren froh, als Silvi mit ihrer Mutter mit ist nach Hengelo. Und Miou hat ne Woche undn Jahr geheult deswegen, was ich bis heut nicht versteh, und ich hab nach ner Woche s Handy abgeben müssen, wegen der Rechnung, weil ich nur am quatschen war mit Silvi. Die erste Liebe, hat Pa gesagt, ist meistens völlig daneben. Mag sein, aber obs Liebe war, das mit Silvi, weiß ich nicht. Aber alles, was danach kam, also diese Menschen, die Mädchen sind und auch Dinger von nem andern Stern, von denen hat mir nie wieder was weh getan irgendwie, so wie bei Silvi, als sie weg war. Und jetzt, mit sechzehn, da ist man schon ein gutes Stück Mann mehr geworden. Und wenn man mal nen Käpt’n geben darf fürn paar schöne Tage und zum letzten Mal in Familie; irgendein Opfer muss man ja mal bringen für die ermöglichte Kindheit, da reißt man sich eben zusammen. Hat Pa mir sogar ne Kapitänsmütze geschenkt, so n Halbhut mit nem goldenen Anker vor der Omme. Hätt ich zum Fasching mit gehen können. Und Miou hat gesagt, dass ich ausseh damit wien Storch, der nicht kacken kann. Ich versprechs, mit dem lieben Schwesterlein werden Ma und Pa noch ganz andere blaue Wunder erleben als mit mir. Mädchen, und ich weiß, wovon ich spreche, haben dreimal schärfere Zähne als Jungs, und wenns bei denen in der Birne döselt, dann richtet weder ein väterliches Machtwort noch eine mütterliche lose Hand was aus. Denn: Auch Mädchen sind Weiber. Und Weiber wollen geführt werden. Also, einen Jungen erzieht man zur Ordnung, zur Höflichkeit, zum Fleiß; aber ein Mädchen, und so auch schon das kurzhalsige Monster, das meine Schwester ist, muss dazu verführt werden, dass sie sich wäscht wenigstens einmal von Kopf bis Fuß die Woche. Pa, aber besonders Ma, haben da Strategien entwickelt, die auf Niederlage programmiert sind. Und ich versprechs; Miou in meinem Alter hat vier Zickenhörner vor der Stirn und geht mit Highheels ins Bett. Also, ich hab mit meiner Schwester noch nie, niente, ich schwörs, was gemacht, was Bruder und Schwester so in der Vorstellung der andern machen, dass sie sich gemeinsam freuen, gemeinsame Geheimnisse haben, gemeinsam den Eltern eins auswischen oder andere Vertraulichkeiten, nie; ich habe mein Zimmer, sie hat ihr Zimmer, und ich weiß nicht, wo ihr Fernseher steht, und sie weiß nicht, ob ich mit einem Kopfkissen schlafe oder mit zwein. Ist ja auch schnietz. Wir haben uns noch nicht aufgefressen; das muss reichen bis zur Rente.
Aber als wir in Röbel unseren Pott zugeteilt bekamen, waren wir echt und breit und über alles verschwistert. Da kriegt uns keiner an Deck, war unsere ungeteilte Meinung, der auch Pa und Ma sich ohne Diskussion anschlossen. Das Boot hatte zwei Kojen im Vorderdeck und unter einem Überzelt konnten im Achterdeck für die Nacht zwei Luftmatratzen ausgelegt werden. Ein 5-PS-Außenbordmotor in einer klapprigen Aufhängung und mit antiker Seilzugstartanlage machte das Horrorszenario komplett. Auf so einem Pott Käpt’n sein, war kein höherer Rang, sondern Schinderniveau. Und das nicht mit mir. Nicht mit uns, gesellte sich Miou rechterseits mir zu. Und Ma stellte sich mir zur linken; mit ihr also auch nicht. Und Pa stand da im Regen bei praller Sonne, denn es war seine Idee gewesen, und er hatte das organisiert. Aber mein alter Herr zeigte Qualitäten; der Pott war nicht, was er geordert und bezahlt hatte, und er hatte für alles Belege dabei und drohte mit Polizei und Anwalt und dem ganzen Gedusel rechtsstaatlicher Rechthaberei. Er war keine halbe Stunde in dem Büro, da wurde für uns eine Riva II an den Steg geschippert, und der moosbärtige Bootsvermieter brachte unser Gepäck höchstpersönlich an Bord, küsste Ma die Hand zum Willkommen und erklärte mir die technischen Details in einem Tempo, dass ich, auch wenn ich n Einserabitur gehabt hätte, wie der gleiche Blödmann daneben gestanden hätte. Wir bekamen zur Verabschiedung immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel gewünscht und Petri Heil; und dann hatte ich das Kommando.
Wie hast du das geschafft, bewunderte Ma Pa? Das ist ja ein Boot wie aus Monte Carlo!
Solche Verhandlungen führt man jenseits von gut und böse, sagte Pa. Warum er mir dabei in die Augen blickte, verstand ich nicht. Aber es kostet auch pro Tag 120 Euro mehr und …
Was? Bewunderung war das nun nicht mehr, was Ma zum Ausdruck brachte. 120 Euro pro Tag! Das sind für zwei Wochen … das sind …?
1680, sagte Pa. Und?
Auf das „Und?“ gab Ma keine Antwort. Aber der erste Tag der schönen Tage, die zu machen wir uns versprochen hatten, war damit fürs Erste erledigt.
Dafür war die Riva absolute Spitze. Mit dem Steuerrad in den Händen und steuerbords lässig in den Sitz gelümmelt und das sanfte Vibrieren vom Motorgang unterm Arsch und eine Welt ringsum, die noch so was von heil war, so schiens jedenfalls, dass es echt weh tat, an zu Hause zu denken, bekam der Tag für mich ne neue Farbe, wurd grün und blau und hell. Und ne Stunde später fand sich das andere auch.
Ma saß mit ihrer Staffelei vor meiner Nase auf dem Vordeck und künstlerte im Postkartenformat. Pa flegelte im Achterdeck auf der Ruhebank und hatte die Taschenbuchausgabe von Jenseits von Gut und Böse neben sich liegen. Miou war unter Deck; und das war das Beste überhaupt.
Ich betrachtete meinen Pa, der wie ein zufriedener Kater seine sich entwickelnde Hinterkopfglatze von der Sonne streicheln ließ und achteraus blickte, als zöge da das gelobte Land vorüber; ich bin sicher, dass er in diesen Minuten glücklich war. Und ich war – ja, das war ich – stolz auf ihn; mein Ossiweicheipapa hatte gekriegt, was er hatte haben wollen und was er bezahlt hatte, er hatte sich durchgesetzt, dass er draufgezahlt hatte, machte nichts schmaler davon; 1680 Piepen machten uns nichts aus, faule Zähne hatten zu jeder Zeit Konjunktur; und wir hatten ein Boot, das einsame Spitze war! Ich setzte mir sogar die Kapitänsmütze auf, sodass Pa und ich einander anlächelten wie erfolgreiche Verschwörer. Für Ma musste ich vom Tempo gehen, weil ihr die Motive zu schnell aus dem Blick kamen. Aber das nahm mir nichts vom Vollrausch, obwohl ichs nicht verstand, denn was sie auf ihre Kartons brachte, war allenthalben Kraut und Wichse, sie konnte einen Baum zehn Minuten anstarren, als Werk wurde es immer nur ein grüner Klecks mit braunem Fuß. Aber ich bin ehrlich; Kunst ist mir so was von ab. Versteh ich nicht und werd ich nicht verstehn, warum einer mit einem Bild oder vor einem Bild seine Zeit vertrödelt. Oder warum sich einer freiwillig Buchstabenkleister zuführt? Hat mir nie einer und kein Lehrer nicht begreiflich machen können, wozu ein Buch in der Welt ist? Dass man lesen können muss, o. k., wüsste man ja sonst nicht, in welche Richtung man laufen soll und was sonst noch angesagt ist. Aber ne Stunde und länger durchs Alphabet spazieren und noch nicht mal genau wissen, obs wenigstens wahr ist, womit man sich abgequält hat? Und wenn Pa in sein Jenseits von Gut und Böse guckt, hat er auch noch nie ein begeistertes Gesicht gemacht. Ich brauche kein Buch, wenn ich was wissen will. Eine Inhaltsangabe im Internet und ein, zwei Querverweise, das reicht. Und zur Unterhaltung gibts DVDs und Gras und Steine. Pa hat so was noch nicht angerührt und wirds auch nie, das ist für ihn tabu, und er hat sich auch noch nie richtig zugedröhnt; Pa hat sich im Griff. Ma natürlich auch, bis jetzt. Aber manchmal hat sie so Aussetzer, sitzt da, stiert auf was und nippelt minutenlang am schon leeren Glas. Ma würd sich treiben lassen, wenns sie mal aus der Bahn haut. Aber wie und durch was sollte das passieren? Faule Zähne haben immer Konjunktur, sagte ich schon, also wirds den sozialen Crash nicht geben. Und emotional? Dass bei Pa ein anderes Herzblatt je eine Chance bekommt, halte ich für ausgeschlossen, Pa ist langweilig, das hält keine andere aus als Ma. Und Ma hat von allem, was Mann ist, die Nase voll. 17 Jahre mit Pa gemeinsam Tisch, Bett und Praxis, da macht man sich über die Schwanzträger keine Illusionen mehr; hab ich mal gehört, wie Ma das gesagt hat zu ihrer Freundin Sophie und … Aber darüber ist, wenn überhaupt, zu anderer Zeit was zu sagen.
Aber auf was für Gedanken man kommt, wenn man seine Erzeuger über die Müritz schippert und nach vorn wie nach achtern über die eine wie über den andern weggucken kann! Und da weiß man, dass es doch stimmt, dass Kinder was Großes sind, dass Kinder auf alle Fälle besser in die Welt passen als die Mas und Pas. Und dass die auch mal Kinder waren, ist sowieso nicht zu glauben.
Aber dann hatte die Mutter Künstlerin kein rechtes Licht mehr für ihr Künstlern und der Vater Nietzsche-Leser noch immer keine Zeile in Jenseits von Gut und Böse gelesen; aber für heute würde es ihm auch nichts mehr bringen, denn für Nietzsche müsse man mehr als für jeden anderen Autor in der passenden Stimmung sein, und darauf brächte er es heute nicht mehr. Und die Monster-Schwester kommt aus der Kajüte ans Noch-Tageslicht und tutet rum, dass kein Eis im Gefrierfach ist und in ihr mindestens drei Frösche unterwegs sind zwischen Hals und Magen. Na ja, schöne Tage klingen anders aus, als dass die Schwester mit dem Kopf außer Bords hängt und die Fische füttert, obwohl der Pott bei Windstille vor Anker liegt und Pa und Ma sich ins Streiten diskutieren, von wem ihrer Eltern das Mioulein diese Magenschwäche geerbt haben mag; dass die verschwundenen sechs Packungen Eis Moskauer Art die Ursache für den Kotzact des Mioumonsters sein könnten, ignorieren beide, und im übrigen hätte das Töchterchen schon mehrmals das Doppelte davon verputzt und nichts wäre gewesen!
O. k., ich war der Käpt’n, aber in solchen Dingen sind Eltern nun mal die Oberköppe! Musste ich bei Dunkelheit den Warener Hafen ansteuern, mit Pa als Mann im Bug, für den Backbord oder Steuerbord jedes Mal die andere Seite ist, und mit Ma und Miou auf dem Achterdeck in Leidenspose: denn die Tochter kollabierte an sechs Bauchschüssen, und die Mutter kollabierte am Kollaps der Tochter.
Ich sah zu ihnen runter und wusste: Das ist die Pietà des beginnenden 21. Jahrhunderts, so sind die Opfer und die Leidenden neuester Neuzeit. Das war zum Lachen, ehrlich. Und, ehrlich, weils so zum Lachen war, wurde mir zum Heulen. Aber dazu kams nicht, denn ich setzte die Riva, weiß der Fuchs, warum, so hart gegen die Pier, dass Pa sich nur mit einem akrobatischen Dreher an Bord halten konnte; dagegen wurde des pietàische Ensemble gegeneinander geworfen, rieb sich die Stoßstellen und vergaß das andere.
Penner, rief Pa mir zu, bei so einem Boot kann so was schnell ein paar Tausender kosten.
Ma sagte nichts. Aber das Monster keifte; er kanns nicht und er wirds nie können, wartet den ersten Sturm ab, wir gehen unter, nur weil ers nicht bringt. Das Monster war geheilt, wenn sie so loslegt, ist die einzige kranke Stelle an ihr in ihrem Kopf.
Kamen nochn paar Leute, dies Krachen gehört hatten; war aber sonst nichts weiter passiert, und auf einmal waren alle gut drauf, und es wurde bis nach Mitternacht, als Pa die Schotten dicht machte. Eigentlich hatte ich noch mal raus gewollt zun paar Typen, die gutes Kraut dabei hatten, das man gegen gebratene Masterscholle und geräucherten Seehecht roch, aber ich war enorm platt, ich weiß nicht mal, wie ich in die Waagerechte kam. Und geträumt hab ich von Silvi nicht und von keiner andern und war alles trocken unterm Nabel am Morgen.
Aber nachm Frühstück, das noch echt Atmosphäre hatte, muss man sagen, da fühlt man sich in gehobenen Kreisen irgendwie, das ist nicht irgendwas, ein Matrosenfrühstück in der Marina einzufahren und mit ner Mütze aufm Kopf, wo jeder erstmal hinguckt. Aber danach fing die Zoffe an. Pa meinte, dass er genau wisse, welche Route wir geplant hatten. Aber Ma wusste es besser. Und ich auch, aber anders als Ma. Und Miou wusste gar nichts, brauchte sie auch nicht, denn sie wollte bleiben, wo wir waren; die Eis- und Frittenbude war keine zwanzig Schritte entfernt, und der versiffte Betreiber hatte die zwei süßesten Pekinesen, die wohl für Eingeweihte einen humanbestimmten Wiedererkennungsfaktor haben, dabei. Es lag auf der Hand, dass sich das Monster durchsetzte. Und auch Ma verkündete, dass die Marina – wer Hafen sagte, würde hingerichtet werden, das musste nicht extra beschlossen werden – ein gutes Motiv für ihre Kunstung wäre. Und Pa konnte sich auch auf einem angetauten Pott Jenseits von Gut und Böse hingeben. Und der Käpt’n sollte sich auf der Karte kundig machen, ab 13 Uhr würde er wieder das alleinige Kommando übernehmen.
Der Käpt’n machte sich kundig. Ma arbeitete – wenn sie so ein Gesicht macht bei ihrer Kunstung, als würde sie eine Stunde lang bei Rot über eine Kreuzung fahren, dann ist das Arbeit – ohne sich ablenken zu lassen. Allein Pa schaffte es nicht mal bis zum ersten Umblättern durch Jenseits von Gut und Böse, als er sich nach hintenüber lehnte und ratzte, dass ein Stockentenpaar mit seinen Jungen auf Abstand ging. Und bis fünf Minuten vor Eins saß das Monster mit den beiden Pekinesen bei der Frittenbude und übte sich in Fast Food In The Sun. Aber dann war sie weg.
Miou, Miou, riefen Ma und Pa um die Wette. Miou, wo bist du? Miou, wir wollen weiter! Und das war nun ehrlich das erste Mal, dass ich Kurt für den besseren Namen hielt; denn das klang wie Katzenjaulen bei Vollmond und ungeölt. Und ne Truppe High-Schüler aus Oklahoma, von denen jeder selber noch drei Kater vom Vorabend mit sich rumschleppte, jaulte bald mit, sodass mans glatt fürn Festival wider den tierischen Ernst hätte halten können, für das Ma und Pa die Animateure waren. Doch nach ner Stunde wars kein Gaudi mehr, sondern wurde wieder mal, die Strategien der Monster enttäuschen nicht, Stress. Für Ma wurde es nun höchste Zeit, die Polizei einzuschalten. Pa wollte zum x-ten Mal noch fünf Minuten warten. Und ich hatte die Faxen über dicke, denn wenn wir den letzten Schleusengang flussaufwärts in Zerpen noch erreichen wollten, mussten wir, der Käpt’n hatte sich ja kundig gemacht, spätestens viertel nach zwei ablegen. Egal, was sie als Entschuldigung vorbringt, sagte ich, ich hau ihr den Arsch voll. Das machst du nicht, fauchte Ma, wir sind froh, wenn sie wieder da ist und ihr nichts passiert ist; guckt euch doch mal um, was für Typen hier rumlaufen. Ma wollte wieder zu einem Mioumioupotpourri ansetzen – aber da flitzte das Monster ins Bild. Wo bleibt ihr denn, schrie es, ich warte schon über eine Stunde da vorn auf euch. Sie wies zur Ausfahrt aus der Marina. Oder kommt man auch woanders auf den See?
Da verschlägts einem auch als Kapitän die Sprache. Und dem Mamilein und dem Papichen sowieso. Aber hast du uns denn nicht gehört, fragte Ma und grapschte Miou ab, als könnte ihr wer was abmontiert haben in der Stunde. Wir haben nach dir gerufen. Alle.
Das Monster schüttelte monstermäßig den Kopf und grinste mich an. Und da wusste ich, dass Jenseits von Gut und Böse auch nur eine Frage des Standortes ist und nicht wirklich was zu tun hat mit Moral und den andern Bemessungsgrößen aus den Grauzonen unserer edelsten Ausbildungen, wie ichs mal nennen will. Aber das war des Pudels Kern noch nicht, um mit Lehrer Hansi Ostermann zu sprechen, wenn er noch einen drauflegte in seinem wohl kompliziertesten Deutschgrammatikkurs ostseits der Elbe.
Wir kamen auf den letzten Drücker in die Zerpener Schleuse. Hinter dem Heck der Riva schloss das Tor und, ich kam gegen das Gefühl nicht an, wir saßen in der Falle irgendwie. Dass es wohl mindestens zwanzig Boote außer uns auch waren, machte nichts dagegen. Das war wie inner Gruft, obwohls ja aufwärts ging. Und Pa hatte noch immer nicht umgeblättert in Jenseits von Gut und Böse. Ma war Mious Verschwinden auf den Magen geschlagen, sie lag unter Deck. Und die Monster-Schwester zickte rum, weil der Käpt’n sie nicht neben sich duldete, womöglich griff sie ihm noch ins Ruder! Es warn ziemlicher Schredder, diese Phase. Aber wir stiegen ja auf.
Und so wars nur natürlich, dass ich ihren Kopf zuerst sehen konnte; wir waren das letzte Boot am unteren Tor und ich auf dem höchsten Guck – und sie stand am oberen Tor und spähte in die Schleusenkammer wie eine Eule in die Nacht. Die Schwärze ihres Haars war eingefärbt. Aber noch schwärzer als schwarz war der Rahmen ihrer Brille; und Brille, dass muss gesagt werden, törnt mich voll ab bei allem. Aber weiter abwärts, so wies sichtbar wurde von ihr, denn wir stiegen ja auf, wurds erträglicher, da war Holz vorm Bau und Fleisch in der Hose. Von links nach rechts hatte sie einen ledernen Patchworkbag umhängen.
Als das Schleusenbecken voll gelaufen war und das Ausschiffen begann, nahm ich meine Kapitänsmütze ab und versteckte sie zwischen den Karten; aber nicht für alles, was man tut, hat man eine Erklärung. Oder? Als Letzte waren wir in die Schleuse eingefahren, als Letzte mussten wir ausfahren. Und ich hätte die Riva auf mindestens drei Meter Abstand und mehr von ihr steuern können, aber – wie eben schon gesagt, nicht für alles, was man tut, hat man eine Erklärung! – sie brauchte nur einen Hopser wagen, um aufs Vorderdeck zu gelangen. Und das tat sie und setzte sich ohne weiteres in Fahrtrichtung und strechte sich ganzkörperlich. Von einem Arschgeweih war nichts zu entdecken und gepierct schien sie auch nicht zu sein.
Hi, rief ich, was soll das?
Sie winkte mir nach rückwärts mit einer Hand, und das wars.
Ich weiß nicht, ob je ein Kapitän so zu einem blinden Passagier gekommen ist, und ich wusste auch nicht, was ich tun sollte ihretwegen. Die Riva musste auf jeden Fall weiter, denn es wartete die Menge Boote zum Niederschleusen. Und es war mir schon komisch, dass ich nach unter Deck rief: Pa! Kannst du mal kommen?
Was gibts?, rief Pa.
Ein Problem, rief ich. Komm doch mal!
Pa brauchte ein Jahrhundert, um zu mir raufzukommen, und noch eins, um das Problem zu realisieren. Wer ist das? Was will sie, fragte er mich? Und, sagte er, du hättest uns vorwarnen können, wenn das deine Neue ist. Kurt?
Wie er dieses „Kurt“ knurrte. Aber Väter in seinem Alter, Vor-Greise gewissermaßen, sind schnell überfordert. Ich hab nichts mit der zu rühren, sagte ich, aber wer weiß, vielleicht du?
Mein Pa glotzte wie der Kanzler vor der Vertrauensfrage oder so.
Vielleicht hast du ihr mal falsch auf den Zahn gefühlt und …
Ich bin zwar nicht der Kapitän, aber den Fall kläre ich. Pa zog die Bermudas bis über den Bauchnabel und couragierte sich aufs Vorderdeck. Dabei schrammte er sich ein Schienenbein an der Staffelei, die Ma neben dem dreistufigen Abgang gestellt hatte; er verdrückte den Schmerz echt mannhaft.
Pa stellte sich vor sie, redete auf sie runter.
Und sie antwortete ihm ein einziges Mal und blickte nicht auf. Was sie sagte, konnte ich nicht verstehen, denn ich musste die Riva endlich auf Fahrt bringen, aber als Pa wieder zu mir ans Ruder kam, hatte sie sich keinen Zentimeter vom Fleck bewegt und nichts ließ darauf schließen, dass sie es je anders als nach ihrem eigenen Willen tun würde.
Sie will nur mit bis ans andere Ufer, sagte Pa. Wir kümmern uns nicht um sie und sie kümmert sich nicht um uns.
An welches andere Ufer, fragte ich, n anderes Ufer ist überall.
Pa rieb sein angeschrammtes Schienenbein. Sie heißt Martha und sie sagt, wir sollten aufpassen, das Wasser kann hier zuweilen ziemlich böse sein.
Die hat ne Klatsche, sagte ich. Böses Wasser, das ist was für Hirntiere oder so.
Ich wollte es dir nur gesagt haben. Pa stieg in die Kajüte ab.
Hoffentlich kann unsere weibliche Belegschaft damit umgehen, sagte ich ihm hinterher.
Keine zehn Sekunden später stand Ma neben mir. Eine Sekunde später auch meine Schwester Miou. Beide starrten auf Martha, hielten dabei eine Hand in Höhe der Brauen im rechten Winkel vor die Stirn, als hätten sie, obwohl wir die Sonne von achtern hatten, eine Blendung zu vermeiden.
Wir rufen die Polizei, sagte Ma.
Können Bullen schwimmen, fragte Miou? Also keine Frage, meine Schwester würde für alle Zeit ihres Lebens kleingeistig und großmäulig bleiben.
Der Käpt’n hat an Bord das Sagen, und ich regele das, sobald eine Gelegenheit dazu ist. Ich zog die Riva in kurzen Schlingerbögen von links nach rechts und von rechts nach links. Ma und Miou hielten sich an mir fest. Von unter Deck war ein Fluch von Pa zu hören. Dem illegalen Passagier auf dem Vorderdeck jedoch schien das zu gefallen. Martha wendete sich zu mir um, lachte, warf den Kopf in den Nacken, dass ihr Haar sich bis zu den Hüften zu verlängern schien.
Ihr kennt euch doch, sagte Ma? Das ist eine von deinen Büchsen? Oder wie nennst du deine derzeitigen weiblichen Umgangspersonen?
Ich habe diese Büchse nie gesehen, Ma, ich schwörs.
Du hast sie nie gesehen, aber ich wette, du weißt, wie sie heißt.
Sie heißt Martha, sagte ich. Ich blickte stur geradeaus. Warum ich das geantwortet hatte, blieb mir unerklärlich.
Und dass Ma sagte, lüge mich nie wieder an, Kurt, nie wieder, mache dich uns nicht zum Feind, war da nur folgerichtig.
Ma, stotterte ich, Ma …
Und das Monsterlein quiekte und wies mit einem Finger auf mich, er wird rot, Mami, er hat Ohren wie ein Ferkel.
Damit schien für Ma die Sache auf die Reihe gebracht. Sie griff an eines meiner glühenden Ohren und sagte, ich mache das Abendbrot, und du sagst ihr, dass sie sich zu uns setzen darf.
Wie sich die Welt in Minuten völlig neu einrichten kann und man wegen „Sie heißt Martha“ nichts dagegen zu tun vermag. Das Potenzial an Bösartigkeit eines Namens ist mit Sicherheit noch nie bestimmt worden, aber „Martha“ würde mit Sicherheit auf einem der vorderen Ränge liegen. Und ich starrte auf ihren Rücken und dachte doch wieder an Silvi und so, dass es mich zusammendrehte wie in einem Schmerz, der vom Hals bis zu den Eiern anpackt und den man nur überwindet, wenn man ihn aushält.
Sie ist hässlich, sagte Miou, bevor sie Ma nach in die Kajüte folgte, aber zusammen seid ihr ein schönes Paar.
Eine Schönheit war Martha nicht, das stimmte, aber hässlich sieht anders aus.
Als ich die Riva vor Anker gelegt hatte und wir im Achterdeck an der Back zum Abendbrot saßen, schickte mich Ma zweimal, dass ich Martha zu uns an den Tisch holte. Aber für Martha war alles, was nach Familie roch, Gestank, so jedenfalls drückte sie es aus. Ihr linkes Auge war so eindeutig grün, wie das rechte blau war und ihre ungezupften Augenbrauen verwucherten über der Nasenwurzel in symmetrischer Struktur.
Ich fress euch nix weg, sagte sie, und die Luft, die ich atme, gehört euch doch noch nicht. Oder?
Es gab keinen Streit, aber es war eine Situation, die sich von Minute zu Minute strapazierte. Ma kochte vor Wut, weil sie fühlte, dass sie dem Flittchen auf dem Vordeck, so nannte sie Martha, nicht wirklich Paroli bieten konnte, und sie meinte schließlich allen Ernstes, dass wir es zu viert doch schaffen sollten, das Flittchen über Bord zu werfen?
Und weil Pa darauf sagte, dass Ma vielleicht in ihre Brutalo-Periode käme, früh alternde Frauen würden oft solche Symptome von inquisitorischer Energie zeigen, flippte sie völlig aus. Das also wärs, sie war eine früh alternde Frau und das Flittchen womöglich ein Arrangement des ewig jungen Gatten, und das wüsste man ja, auf was für krause Gedanken Jung-Greise, die ihre Wasserlatte für neue Triebigkeit hielten, kämen!
Bist du denn völlig vom Verstand, fragte Pa baff?
Ma vergaß, weiter an ihrem Bissen zu kauen. Und auch mir wurds flau im Magen; so hatte ich meine Eltern noch nie miteinander umgehen erlebt, so entblößt, so scharf in den anderen zielend.
Und wie ich bei Verstand bin, schrie Ma und knallte ihr Besteck auf die Back. Aber das ist ab heute Schnee vom letzten Jahr, ob ich bei Verstand bin oder nicht. Sie stand auf.
Mami, sagte Miou, nicht so laut, Mami, sonst reißen die Sterne aus vom Himmel.
Aber Ma war voll auf Pa fixiert. Geh zu ihr und fick sie von mir aus! Sie schnipste mit den Fingern gegen Pa. Das ist doch die Gelegenheit! Und du hast sie dir selber gebaut.
Pa starrte auf den Tisch, schüttelte den Kopf. Du bist tatsächlich verrückt, sagte er, du kannst nur verrückt sein.
Aber sag du mir wenigstens, wie sie heißt, forderte Ma.
Bevor Pa oder ich antworten konnten, sagte Martha: Ich heiße Martha.
Martha, wiederholte Ma, auch das noch. Warum heißt sie Martha?
Und ich weiß nicht, was mich am Grips kratzte, denn ich sagte, weil Pa, wenn er schon mal auf Erotik macht, eine Martha ficken will.
Miou grunzte; und das war das Peinlichste überhaupt.
Pas Hand auf meiner rechten Backe war dagegen nicht der Rede wert, auch wenn ich nie geglaubt hätte, dass er eine so schwere und so kalte Hand hat.
Und Ma lachte, lachte so, als würde sie ihre bescheuerte „Louis-Funès-Fun-Collection“ gucken und wie immer nie sagen können, worüber sie da gerade lacht, und tänzelte ab in die Kajüte, als hätte ihr wer eine schöne Nacht versprochen.
Pa ging ihr sofort nach.
Ich hörte, dass Ma laut nein sagte, und dann nochmals nein. Mehr war nicht zu hören von ihnen.
Wenn er mir mal eine scheuert, sagte Miou, ich beiß ihm in den Arm.
Meine rechte Gesichtshälfte schwoll auf Ballongröße an, und ich redete mir ein, dass ich hätte zurückschlagen müssen, dass ich ihm hinterher müsste und ihn ohrfeigen, und dass ich, wenn ich es nicht tat, eine Pupe war und blieb, ein mannloses männliches Gewächs, eine Lusche auf Lebenszeit. Meine Schwester, und ich sags noch einmal, jenes Monster von Erzeugers Gnaden, verwandelte sich vor mir zum Roten Tuch, und Jenseits von Gut und Böse, daran war kein Zweifel mehr, ist immer da, wo man sich befindet; das Jenseits von Gut und böse ist stets diesseits.
Wenn du ihn beißt, sagte ich, bestell ihm Grüße von mir.
Das Monster blickte aus seinem Roten Tuch, als wären ihr Gummibärchen mit Betoneinlage serviert worden.
Und glaub mir, sagte ich – und ich sagte das nun, obwohl ich nie richtig was gehört hab von der Story, wo Kain seinen Bruder erschlägt und sich die Plots unserer Geschichte entwickelten; aber da wusste ichs! – wenn Kain statt seines Bruders Abel nur eine Schwester gehabt hätte, dann hätte er die erschlagen, denn einen erschlagen, einen killen, das war seine letzte Möglichkeit auf Leben.
Auch du tickst nicht richtig, sagte Miou, aber Mama macht mir wenigstens keine Angst.
Das Monsterchen verzog sich in die Kajüte, und ich blieb allein an der halb abgefressenen Back und mit einem halben kitschgelben Mond am Himmel und einer sich abwesend gebenden Martha. Und ich dachte weiter, dass dieser Kain ja der eigentlich Angeschmierte in dieser Geschichte war, mit dem einen Schlag war ihm alles futsch, das Erbe von Papa Adam und Mama Eva, denn die hatten da schon einiges an Land und Schafen und was damals Wert hatte zusammengekratzt, die ganze Heimat war ihm hin, vernagelt für ihn, und dieses Zeichen auf der Stirn, mit dem er rumlaufen musste, ohne dass er genau wusste und je wissen konnte, wie es aussah, sein Kainsmal, und dass er der Erbsünder war vor seinem Vater noch, weil er als Totschläger auch noch ein clanfremdes Weib nehmen musste und das Geschlechtliche somit total verquer schlug ins Geschlecht uns allen, oder wie erklärt man den ganzen Schmarren? aber das alles war doch nur so, weil DER oben drüber, den ich mir vorstell wie Pa mit 119 – vorgestellt habe, denn dass dem von oben drüber mal so die Hand ausrutscht wie meinem Pa, das kann ich mir nicht vorstellen – den einen Rauch hat aufsteigen lassen und den anderen gedrückt hat, und war sowieso keiner dabei, ders gesehn hat, hätte also auch anders herum gewesen sein können, dass also Kain den Abel, seinen Bruder, erschlug, weil sein Rauch aufstieg und er so der Angesehenste war vor dem da oben drüber und Abel nichts galt mehr nach dem Zeichen und er seinen Bruder aus der Welt schaffte, um ihm die Schmach zu ersparen, ohne Wert zu sein und trotzdem sein zu müssen, ohne Geschichte weiter sein Leben zubringen zu müssen; aber ob so oder so, der da oben drüber war der eigentliche Urheber der Schuld und der Sünde und des ganzen daraus folgenden Schlamassels; aber wenn die Sache so gelaufen war, passte sie natürlich schlecht in die Bücher, ein Totschläger als Erlöser, als Wertgeber, das verkauft sich schlecht, und das gleicht auch einer, der über allem drüber ist, nicht mit Schweigen und unerhörten Versprechungen aufs Seelenheil in irgend ferner Ewigkeit aus.
Martha kroch übers Vorderdeck, blickte zu mir runter. Ich habe mir mindestens hundert Klatschen von meinem Vater und mindestens zweihundert von meiner Mutter eingefangen, aber nur die erste hat echt weh getan, sagte sie, und überleben tut man jede.
Er kriegt sie zurück, sagte ich, morgen oder irgendwann.
Martha rutschte die Treppe runter bis an den Tisch. Sie nahm sich Käse, Brot und Oliven, aß. Deine Alten sind total überstresst und emotional auf Null gefahren; ich würde mich sofort abdröhnen, wenn ich mal so weit wäre. Sie setzte sich neben mich. Hast du was dabei? Muss nichts Hartes sein. Aber dass man abfliegt fürn paar Stunden.
Ich habs versprochen, dass so was nicht mit auf Reisen kommt.
Was bist du für ein liebes Bübele!
Genau das sagte sie und griff mir zwischen die Beine, dass ich da saß wie genagelt.
Wenigstens hast du keinen Steifen, sagte sie, ich brauche mindestens fünf Meter Abstand zu ner Erektion, weil, ich sags mal so, äußere Potenzen busteln mich.
Was bist du für ne Type, fragte ich?
Sie hatte wohl vergessen, ihre Hand von mir zu nehmen, also tat ich es.
Tu nicht so jungfräulich, sagte sie. Deine Mutter hält deinen Alten für nen Springbock, da werden doch für dich ein paar Gene mit abgefallen sein?
Sie hatte allen Käse weggeputzt und machte sich nun über die spanische Salami her.
Schon weil man keinen Einfluss drauf hat, wie sich die Gene mixen, werd ich nie ein Kind wollen. Wenns wird wie ich? Was soll einer damit anfangen?
Ach, Bübele, sagte sie!
Ich bin kein Bübele.
Soll ich Kurt zu dir sagen?
Martha blickte mich an. Trotz der Dunkelheit konnte ich das Grün ihres rechten und das Blau ihres linken Auges in einem matten Schimmer erkennen.
Großväter heißen Kurt. Oder Politiker. Oder Verbrecher, die schon hinüber sind, sagte sie. Aber ein Bübele von heute!
Politiker sind Scheiße, sagte ich.
Quadratscheiße, sagte Martha, potenzierte Doppelgänger, die sagen nicht nur jeden Tag was anderes, die sind auch mindestens dreimal am Tag ein anderer, dass trotzdem mit einem Schuss einer zu erledigen ist, dürfte eines der letzten Wunder sein.
Du bist politisch?
Martha grinste. Und für den Augenblick wars, dass Schönheit auch so aussehen konnte wie sie.
Du nicht, fragte sie? Und antwortete sich selber, nein, du nicht, du schipperst deine missratenen Eltern durchs mecklenburgische Paradies und gehst davon aus, dass die Renten, trotz anders lautender Prognosen, sicher sind, auch für dich.
Über Rente und die Hullwulle, die davor angesagt ist, hab ich mir noch keinen großen Kopf gemacht, sagte ich. Für solch Gerede war der Mond natürlich verschenkt und die ganze übrige Romantik drum herum auch. Aber ich würd gern mal nen Berg besteigen, wo noch keiner oben war und dass ich einen Blick hab, wie ihn noch keiner hatte.
Vergisses! Martha stopfte auch das letzte essbare Stück vom Tisch in sich rein und putzte die Handflächen aneinander ab. Für uns gibts keinen Berg, wo noch keiner oben war, wir sind Kinder von Endverbrauchern, Müllverwerter, Resteschlucker, wir sind selber Müll und Reste.
Bin ich nicht, sagt ich, will ich nicht sein und bin ich nicht.
Frag deine Macher! Martha deutete in Richtung Kabine. Die hoffen nicht mehr auf uns. Ich meine, darauf, dass wir es sind, die nach ihnen die Welt besser machen.
Wo kommst du her, fragte ich? Ausm Öko-Camp? Oder von Jesus? Oder?
Bützow, sagte sie. Frauentrakt. Zwei Jahre und neun Monate.
Martha lächelte mich an, so wie ich noch nie angelächelt worden war; so macht man alle Tore offen zu sich; aber ich würde da nicht hindurchkommen zu ihr.
Ich hab mein Baby in der achtunddreißigsten Woche auf ner Toilette geboren. Ich war für mindestens drei Stunden kaputt. Ausgeschaltet, wenn du verstehst? Danach, ich weiß das genau, denn so was Kaltes hatte ich vorher nicht und habe ich nachher nicht berührt, war mein Baby tot. Und ich habs auch nicht plärren gehört und von seinem Herzschlag nichts gespürt. Aber der Richter war anderer Meinung. Und da habe ich nicht mehr gesagt, dass es trotzdem schön gewesen ist, mein Baby, und dass es nie so schön hätte bleiben können, wenns sich eingereiht hätte hinter uns. Ich glaube, mein Baby hat genau gewusst, warum es sich nicht weiter eingelassen hat mit mir. Sonst … Martha blickte in ihre offenen Handflächen. Sonst hätte es mir ja die Hände festhalten können, als ich es in den Abfluss gesteckt haben und die Spülung … Na ja, die einzig mildernden Umstände waren, dass ich grad vierzehn geworden war und mein Elternhaus mir weder Hilfe noch Halt hat geben können. Aber sie haben mich einmal besucht. Und sie haben mich gefragt, wies mir geht? Und als die Stunde um war, haben sie gesagt, nun sag doch mal was, Bine!
Du heißt doch Martha?
Mein Baby heißt Martha. Ich musste ihm doch einen Namen geben, wegen der Papiere. Ich heiße Sabine. Aber ich bin Martha. Damit doch noch was ist von meinem Baby in der Welt.
Sie haben dich entlassen, und du weißt nicht wohin? In einer Tupperdose waren Melonenscheiben, von denen sie noch nicht probiert hatte; ich schob sie ihr hin. Du hättest auch auf ein anderes Boot steigen können und ein anderes Ufer ist überall.
Ist aber trotzdem kein Zufall. Sie massierte ihre Hände, die eine mit der anderen. Aber frag mich nicht warum.
Wie übersteht man drei Jahre Knast, fragte ich? Wenn sie mir mals Kino gestrichen haben oder Ausgang überhaupt, ich hätt platzen können.
Ich habe die Bibel gelesen. Ich sah ihre Hand im Dunkeln nicht, aber als sie mein Gesicht berührte da, wo ich von meinem Vater geschlagen worden war, war es das Beste und Größte und einzig Gute, was mir passieren konnte. Dreiunddreißigmal habe ich sie gelesen, Wort für Wort. Und es stimmt nicht, dass gesagt wurde, dass, wenn du auf eine Wange geschlagen wirst, du die andere auch hinhalten sollst. Und auch wenns stimmt, ists Grundmist, egal, wer dich schlägt und warum, geschlagen werden ist immer ein Totgemachtwerden irgendwie. Ja, sagte sie, und man wird totgemacht nur so weit, damit man für ein neues Totgemachtwerdenkönnen verwendet werden kann.
Aber die Bibel dreiunddreißigmal? Mein Pa versucht seit Jahren, Jenseits von Gut und Böse zu lesen. Und seit wir auf Törn sind, schleppt ers mit sich rum, aber ob er schon eine Seite geschafft hat?
Es ist alles Lüge, die ganze Bibel. Das wusste ich mit dem ersten Satz. Denn es weiß ja keiner, was am Anfang war. Aber trotzdem! Sie strich ihre Hand von meinem Gesicht; und das war schon Abschied. Obwohls Lüge ist alles, sind die Geschichten doch wahr.
Und das von Adam, fragte ich, was ist das? Da war doch auch keiner dabei, ders gesehn hat, wies passiert ist mit Eva und der Schlange und dem Apfel und wie er sie danach in die Büsche gehaun hat, dass es Gott die Augen verblitzt hat. Und konnte da überhaupt schon einer schreiben? Oder sprechen? Steht was in der Bibel, dass Adam und Eva zur Schule gegangen sind und mit hängenden Ohren, so wie wir, ihrem Papa Gott ihre Zeugnisse haben unterschreiben lassen?
Sie lachte. Ja, sagte sie, es steht das alles drin, man muss nur wissen, was man lesen will.
Ihr Lachen erinnerte mich an Silvi, wie sie gelacht hatte, als ich ihr geschworen hab, dass nie eine andere eine Hand an meinen Körper legen würde und so weiter, es war ein Lachen, das mich klein machte, mir die Bedrückung vermittelte, dass es etwas gab, das mir verschlossen bleiben würde für immer; nicht Silvi als Frau an sich und nicht MarthaSabine an sich, aber ein Bereich in ihnen, der mir nie zugänglich sein würde, weil ich ihn nicht begreifen konnte; denn ich war Kurt.
Sie lachte noch einmal nach. Dass du was von Adam weißt?
Das Wasser lag matt und schwarz um uns. Und ich konnte ihr nicht sagen, dass ich nichts wusste von Adam, dass Adam als Problem in mir aufgekommen war aus Hilflosigkeit, als Anhängsel irgendwie meiner Misere, dass mein Vater mich geschlagen hatte und ich das Gefühl hatte, mit diesem Schlag bis auf den Grund meiner und somit vielleicht aller Bezüglichkeit von Vätern und Söhnen und von Geschlecht zu Geschlecht geschleudert worden zu sein, ich wusste nicht einmal, wo es gewesen sein sollte, das mit Adam und so weiter, denn dass es im Paradies stattgefunden hat, das konnte doch nur eine Ausrede sein.
Ich glaube, MarthaSabine lehnte den Kopf weit in den Nacken, blinzelte den Sternen zu, Adams Problem war und ist es noch für uns, dass er der erste Mensch ist, der zugleich er selbst war und das ganze Geschlecht und dennoch auch gleichzeitig mehr noch, denn, so habe ich es dreiunddreißigmal immer wieder gleich gelesen, wenn mit ihm die Sünde begonnen hat, dann steht er auch außerhalb seines Geschlechts, sonst gäbe es das Geschlecht ja nur, um zu sündigen. Verstehst du? Oder hat erst Adams Sünde den wahren Menschen möglich gemacht? Hat, dass er Eva erkannt hat – eine Frau erkennen, ist, so finde ich, die tollste Umschreibung dafür, dass man mit ihr gebumst hat – nicht erst möglich gemacht, dass unterschieden werden kann zwischen Gut und Böse und, dass sogar von einem Jenseits davon zu spekulieren ist? Verstehst du?
Ich verstand sie, aber nur so lange, wie sie sprach. Danach wars vorbei, Adam, Sünde und Geschlecht waren wieder so wenig für mich vorhanden wie eh. Und ich sagte, ich lebe lieber, als dass ich viel drüber nachdenke.
Ich auch, sagte MarthaSabine, aber es gibt Zeiten, für mich gab es Zeiten, da konnte ich nur leben, wenn ich übers Leben nachdachte.
Als du im Knast warst?
Der Knast war meine Rettung. Sie zog die Knie bis an die Brust, umklammerte sie mit beiden Armen, stützte das Kinn auf. Du kannst es ja nicht wissen, Bübele, und vielleicht wirst dus nie wissen, aber es sind immer die alten Geschichten, die, auch wenn in ihnen selbst keine Hoffnung ausgedrückt wird, Hoffnung machen.
Aber du kannst dir einen ganzen Vierzigtonner voll Hoffnung machen oder machen lassen, du kriegst dein Kind nie wieder. Eine Wut auf sie durchpeitschte mich, dass mir die Lider flatterten und ich eisigkalte Flecken auf den Wangen fühlte, ohne dass ich sie berühren musste. Und keinen einzigen Tag von denen im Knast kriegst du durch Hoffnung zurück. Und ich, ich kann mir megageile Hoffnung machen oder machen lassen, dass mein Alter mich geschlagen hat, wird davon nicht besser oder ungeschehn. Von Hoffnung kann man nicht leben. Und von Geschichten nicht. Und wenn, dann nur, wenn die Hoffnung den Mut macht, dass man es wagt, ein Kain zu sein, dass man erschlägt, tötet, um seinem Bruder zu ersparen – und wenn man so weit ist, sind einem alle Brüder – unter seinem Wert aus der Welt genommen zu werden. Hätte Kain den Abel, seinen Bruder, nicht erschlagen, was wüssten wir von ihnen? Mit einem geruhsamen Leben in allgemeinem Wohlgefallen schreibt sich keiner in die Geschichte. Aber wenn …
Aber wenn, fragte MarthaSabine? Sie blickte über die Knöchel ihrer Hände hinweg mich an, als belaure sie ein unberechenbares Wesen, als säße mit mir ein Raubtier vor ihr, von dem sie in jedem Augenblick eine Attacke, einen Angriff auf ihr Leben zu erwarten hatte.
Aber das ist mir eigentlich alles schnuppe, sagte ich, das ist mir pille und palle.
Und warum redest du dann davon, Bübele?
Weil du da bist. Ich warf ein abgebrochenes Stück Brot gegen ihre Knie. Seit du auf dem Pott bist, geht hier alles an Bord wie geknautscht. Meine Mutter kriegt ne Macke. Mein Vater prügelt auf mich ein. Meine Schwester mutiert ins Monstermäßige. Und ich …
Und du redest von Adam und weißt nicht mal, ob der Mercedes fährt oder Müllermilch trinkt oder Bayernfan ist. Sie zerbröselte das Brotstück zwischen beiden Daumen und Zeigefingern. Und redest von Abel und Kain, als ob sie deine Brüder wären und du gefragt bist, ob du ihr Erbteil annimmst oder ausschlägst?
Mich interessiert das nicht. Aber du …
Aber ich?
Vielleicht gibts Menschen, die andern, wenn sie ihnen begegnen, ein Problem aufpacken? Die da, wo sie sind, den Dreck aufwühlen im andern, nur, weil sie da sind? Die immer und immer sich darbieten, sich darbieten müssen, als würden sie bei allem aufs Ganze gehen, als würde in ihnen jeder andere geprüft und verworfen? Und vielleicht bist du so ein Mensch?
Ja, sagte MarthaSabine und stand auf, vielleicht bin ich so ein Mensch?
Sie kletterte aufs Vorderdeck zurück.
Wenn du eine Decke willst, fragte ich?
Nein. Sie wandte sich nicht um. Ich brauche eine Haut, wenn mir kalt ist, an der ich mich wärmen kann; aber das ist hier nicht zu haben.
Damit wars, als schalte sie etwas ab in mir, als wäre ich, während sie bei mir gesessen hatte und wir redeten miteinander, in einen andern Raum gewesen, in einer anderen Zustandsform als bisher; denn so, als rührte man mit sich, mit seinen Problemen und Misslichkeiten in der Weltsuppe, hatte ich noch mit niemandem gesprochen, nicht mit Pa, nicht mit Ma und auch nicht mit Silvi, mit keinem von den Kumpels und auch die dritte Luft nach nem Joint war dagegen Luschensalat.
Martha, rief ich, Sabine!
Bin nicht mehr anwesend, antwortete sie.
Und so, als würde sies in MarthaSabines Stimme fortsetzen, hörte ich das Mioumonster. Ich hab Angst, Kurt.
Miou stand hinter der Kabinentür, glupschte zu mir her, dass das Weiße in ihren Augen zu sehen war.
Wovor hast du Angst, fragte ich?
Weiß nicht, vor allem. Sie kam eine Stufe höher, schielte aufs Vorderdeck. Haut sie ab?
Morgen, morgen bestimmt. Ich konnte Martha, dass sie eigentlich Sabine hieß, ging an mir vorbei, nicht sehen auf dem Vorderdeck, wahrscheinlich hatte sie sich flach ausgestreckt und – dass man so was wünschen kann für sich, hätte ich vor ner Stunde noch jedem bestritten – ich wünschte, ich könnte der Tau sein, der durch ihre Shorts und das Shirt bis auf ihre Haut drang und sie kühlte. Morgen verschwindet sie bestimmt, sagte ich.
Miou huschte an meine Seite, drängte unter die Achsel.
Und ich zog das Monster seit wer weiß wie vielen Jahren oder zum ersten Mal überhaupt an mich; es war heiß und zitterte, und für den Moment wusste ich, dass sie wie ich jeder sein eigenes Herz in der Brust hatte, aber dass dennoch zumindest der halbe Teil davon gleich einem halben Teil des Herzens des andern war.
Brauchst keine Angst zu haben, sagte ich und kratzte an einem Stück rauer Haut am Ellenbogen meiner Schwester.
Sie ist böse, flüsterte Miou.
Sie ist unglücklich, sagte ich.
Ich bin auch unglücklich. Meine Schwester drängte sich weiter an mich und ich roch sie da, wie sie als Baby gerochen hatte, so als würde sie, geborgen unter meiner Achsel, zurückwandern in ihrer Geschichte. Und du bist auch böse, sagte sie, manchmal bist du sehr böse.
MarthaSabine lachte. Wie von allen Seiten drang es auf uns ein, als hätte sie ihr Lachen wie eine Schlinge um uns geworfen, um mich und meine Schwester. Aber unglücklich war ein viel zu großes Wort für Miou, mit acht Jahren ist Unglücklichsein ein Pieks irgendwo innen, von dem die Welt nicht wackelt oders dunkel wird um die Sonne; aber es war etwas mit ihr, das ich noch nie an ihr wahrgenommen hatte; sie brauchte einen andern Menschen. Und das hatte ich noch nie von ihr sagen können, nicht einmal, als ich sie das erste Mal nackicht und schreiend auf dem Wickeltisch gesehen habe, auch da schon hatte sie nur verlangt, hat sie nur gebraucht, um zu verbrauchen, mit trockenen Windeln und Brei hat sie angefangen und bis vor ner Stunde noch wars um Zeit, Liebe und Macht gegangen. Meine Schwester Miou hat alles erobert, was ein Kind mit Rücksichtslosigkeit erobern kann und was es in der Folge unterdrücken darf.
Aber nun saß dieses Monster an mich geschmiegt und hatte gesagt, ich sei böse, und ich brachte nichts anderes dagegen auf, als sie noch fester an mich zu drücken. Ich bin nicht böse, sagte ich. Und sie da vorn auf dem Deck ist es auch nicht und du nicht und Pa nicht und Ma nicht. Die Bösen leben auf einem andern Stern.
Es gibt keinen Stern, auf dem was lebt, sagte meine Schwester, nur hier bei uns.
Zu jeder anderen Gelegenheit hätte ich geantwortet, sie solle sich einen Popel drehen und sich mit ner vollen Tüte Chips bewaffnen und keinen kratzen, dems nicht juckt, aber es hing auch jetzt noch die Schlinge von MarthaSabines Lachen um uns und verzurrte uns zu einer Einheit, die wir so wohl nie für möglich gehalten hätten.
Und Jenseits von Gut und Böse lag noch immer auf der Sitzbank, und ich griff danach und blätterte es auf. In der Finsternis blieben alle Seiten dunkle Blätter, auf denen sich das Band der gedruckten Buchstaben um etwas dunkler noch abhob. Und ich dachte, dass, ob Gut oder Böse, man braucht Licht, wenn mans erkennen will; ja, ich dachte „erkennen“ und hatte es doch, wenn überhaupt, nur lesen wollen.
Miou, sagte ich, wir hauen morgen ab.
Ja, sagte Miou, aber wohin?
Wir gehen los, wohin kommen wir dann schon.
Ma kriegt ihre fünfhundertste Krise. Miou nahm mir Jenseits von Gut und Böse aus den Händen, hielt es über Bord und ließ es los. Davon, dass es ins Wasser fiel, gab es keinen Laut. Und Pa? Vielleicht schlägt er dich wieder, wenn sie uns kriegen?
Vielleicht merken sies gar nicht, dass wir weg sind, sagte ich?
Ja, sagte Miou, vielleicht tun wir ihnen nur einen Gefallen damit?
Wieder ein Lachen von MarthaSabine. Es klang viel weiter entfernt, so als wäre sie nicht mehr auf dem Vorderdeck, sondern tatsächlich, so wie ihr Lachen es verriet, irgendwo um uns, und es war, als zöge sie die Schlinge nun von uns, so dass es ab jetzt kein anderes Band zwischen mir und um mich und meine Schwester gab, als das sogenannte Geschwisterliche.
Martha, rief ich! Und noch einmal, Martha!
Doch es kam keine Antwort und auch kein Lachen mehr.
Und Miou sagte wieder, ich hab Angst.
Wenn du Angst hast, sagte ich, dann gehen wir eben nicht.
Doch, wir gehen, sagte Miou, wenn es hell wird, gehen wir.
Aber weder ich noch Miou bekamen mit, dass es hell wurde und wie. Als wir erwachten. stand die Sonne schon überm Schilf und Ma hockte uns gegenüber und spritze Wasser in unsere Gesichter. Davon tourten die Gedanken aufs Abhaun gleich wieder heiß.
Guten Morgen, liebe Kinder, gurrte Ma, jetzt wird gebadet und dann übernimmt der Kapitän wieder das Kommando.
Pa stolperte aus der Kabine. In den viel zu großen Badeshorts sah er aus wie ein Strandindianer, aber so, wie er sich das Instrumentarium ordnete, wusste ich, womit und wie er Ma aus der Krise gebracht hatte. Und Miou, so wie sie mir den Ellenbogen in die Seite rammte, war das klar, wusste es auch. Eltern sind nun mal Kinder, die keiner mehr erziehen kann.
Ma lugte aufs Vorderdeck. Wo ist sie? Ist sie weg? Sie blickte zu Pa, zu mir.
Sie hatte nach eurem Abgang die Schnauze voll von uns und hat sich ein Taxi gerufen, sagte ich.
Kurrrt! Ma stieg aufs Vorderdeck, schälte sich dabei aus dem Morgenmantel.
Ich mochte sie nicht ansehen, wenn sie nackt war, mochte es nie; nackt war meine Mutter wie ein Tier für mich, und man konnte auch durch Fantasien nichts ändern daran, nackt muss eine Frau schön sein, wenn sie als schön wahrgenommen werden will.
Keine Probleme, Kurrrt, knurrte meine Mutter abermals und sprang ins Wasser.
Du hast es gehört, sagte Pa und hechtete aus dem Achterdeck Ma hinterher.
Beide tauchten zugleich und prustend auf, patschten ins Wasser, neckten einander, tauchten wieder ab.
Wie ist sie von hier verschwunden, fragte Miou?
Sie ist weg, sagte ich, wie geht uns nichts an.
Miou beugte sich übers Bord. Und wenn sie …? Vielleicht konnte sie nicht schwimmen? Miou grinste mich an. Ah ja, hab ich vergessen, sie hat ja ein Taxi genommen. Tschuldigung, Kapitän!
Rodscher, sagte ich und blickte über den See. Einige Boote waren schon auf Fahrt, um andere war ähnlicher Betrieb wie bei uns. Einmal zog der Duft von frisch gebrühtem Kaffee in die Nase und einmal der von Unverdautem, wie Kotze mit ernährungstechnischem Vokabular bezeichnet wird. Aber kein Zeichen, das MarthaSabines Verschwinden erklärbar machte.
Ma und Pa schwammen auf die Riva zu.
Nun kommt doch auch ins Wasser, rief Ma. Sie plantschte demonstrativ. Komm, Miou, es ist herrlich! Sie legte eine Hand auf Pas Kopf, tauchte ihn unter. Kurt, rief Ma, sei ein Mann!
Miou streckte sich. Ja, Kurt, sagte sie, sei ein Mann.
Pa tauchte auf, machte große Wohlfühlgeste und auf General, rief, na los, ihr Allzeitmuffel! Klamotten runter und Sprung ab ins Wasser!
Nicht mein Spiel, sagte Miou und wollte in die Kabine abgehen.
Ich hielt sie fest; aber eigentlich berührte ich sie nur an der Schulter, und sie blieb stehen, so als würde ich sie mit einem Griff festhalten. Komm, sagte ich, wir tun ihnen den Gefallen. Und wenn sie an Bord gehen, haben wir unsere Chance.
Miou, rief Ma wieder, es ist so herrlich! Komm!
Miou wandte sich dem Wasser zu, kippelte auf den Sohlen und trat mit einem Bein auf den Sitz.
Pa nickte mir zu und zeigte auf Miou.
Nun spring schon, sagte ich, wir können sowieso nicht nackt durchs Land laufen.
Aber ich hab doch Angst, flüsterte Miou.
Pa winkte mit den Kopf zur Seite und stieß einen Arm voraus.
Und Ma rief nochmals, es ist so herrlich, Kinder! und trieb sich mit Armschlägen rückwärts vom Boot weg.
Nun mach endlich, Kurt, rief Pa, wenn man die Weiber nicht schubst, kommt man nie voran mit ihnen.
Ich hab auch Angst, flüsterte ich meiner Schwester zu und stieß ihr mit beiden Händen in den Rücken.
Miou quiekte, ruderte mit den Armen, wollte nicht ins Wasser stürzen; konnte es aber nicht verhindern.
Als das Wasser über ihr zusammenwirbelte, sprang ich ebenfalls. Ich sah noch, dass Pa mir einen aufgereckten Daumen wies und dass Ma in Richtung Miou abtauchte. Ich wollte bis auf den Boden gelangen, schaffte es aber nicht. Als ich mich auftreiben ließ, öffnete ich die Augen. Ich sah, dass Miou mit Schwimmbewegungen in dem grünen Dämmer vor mir verschwand. So untergetaucht, war ich in einer reduzierten Welt, es bedurfte, um in ihr zu verbleiben, nichts weiter, als sich untergetaucht zu halten. Aber, was ist ein Wille – und wars denn einer? – gegen das archimedische Prinzip im Verein mit dem biologischen Regelwerk von Atmung und Trieb? Ich stieg auf: Und da war ein schwarzer Strich im Tag.
Mein Pa schüttelte etwas mit beiden Händen und rief, wer war das? Er hatte Jenseits von Gut und Böse gepackt. Mit jeder Bewegung lösten sich Blätter aus dem Einband und trieben wie Herbstlaub auf dem Wasser. Was für ein Mensch macht so was, rief Pa?
Und Ma, die eben aus einer pirouettenhaften Bewegung unter Wasser auftauchte, rief, kaum dass ihr Mund über Wasser war, Miou! Miou!
Und ich rief, Miou! Und ich rief es nur dieses einzige Mal. Denn ich wusste, dass kein Rufen und Suchen meine Schwester wieder zum Auftauchen bringen würde; und das war der schwarze Strich im Tag.
Wo ist Miou, rief Ma? Miou!
Ich tauchte wieder. Und da wollte ich doch noch einmal rufen, aber es gelingt einem kein Laut untergetaucht. Ich sah Beine, einen Körper; es war meine Mutter. Aber ich griff danach. Und spielte, aufgetaucht, Enttäuschung, dass es nicht Miou war.
Ma schlug um sich, tauchte wieder.
Pa war an Bord geklettert, lief vom Vorderdeck ins Achterdeck, starrte aufs Wasser, ins Wasser. Wo ist deine Schwester, schrie er mich an? Wo ist … Und er hechtete mit einem Kopfsprung abermals ins Wasser. Aber Miou brachte er nicht mit herauf.
Dann rief Ma um Hilfe. Hilfe, rief sie und schwenkte die Arme und die Nässe auf ihrem Gesicht sah doch tatsächlich aus wie von Schweiß und Tränen.
Und Pa kletterte wieder an Bord und feuerte ein Notsignal ab.
Mir geriet eins von den losen Blättern von Jenseits von Gut und Böse in die Hände. Und ich las, mit von der Nässe in meinen Augen getrübtem Blick: Man soll seinen Proben nicht aus dem Wege gehen, obgleich sie vielleicht das gefährlichste Spiel sind, das man spielen kann, und zuletzt nur Proben, die vor uns selber als Zeugen und vor keinem andern Richter abgelegt werden. Nicht an einer Person hängen bleiben: und sei sie die geliebteste; - jede Person ist ein Gefängnis, auch ein Winkel. Nicht an einem Vaterlande hängen bleiben: und sei es das leidendste und hilfsbedürftigste, - es ist schon weniger schwer, sein Herz von einem siegreichen Vaterlande los zu binden. Nicht an einem Mitleiden hängen bleiben …
Kurt, schrie Pa mich an, nun mach doch was, Kurt.
Ma hielt sich mit einer Hand an Bord fest, ihr Kopf schaukelte, als wären ihr die Wirbel durchtrennt worden, und sie zitterte.
Nicht an einem Mitleiden hängen bleiben …, las ich wieder.
Zwei der nächstliegenden Boote hielten nun auf die Riva zu. Ich schwamm ihnen entgegen. Man fragte mich, was passiert sei? Und ich antwortete, dass meine Schwester nicht mehr aufgetaucht ist. Immer diese Scheißanfänger, hörte ich jemanden, chartern sich ne dicke Riva, aber keine Ahnung von den Strömungen und Rasmus.
Ich schwamm zwischen den beiden Booten hindurch und weiter zum Ufer. Als ich wenige Meter vor dem Schilf Boden unter die Füße bekam, blickte ich zurück. Es waren jetzt vier Boote um die Riva herum, und aus der Mitte des Sees hielt ein Boot des Rettungsdienstes ebenfalls Kurs dorthin.
Ich kämpfte mich durch das Schilf ans Ufer und mir war, als würde ich mit jedem Schritt die Farbe wechseln, als würde ich mit jedem Schritt voran, der ja auch ein Schritt weg war, von verschiedensten Wertungen geprägt; aber ob links gesetzt „gut“ war oder „böse“ oder umgekehrt, konnte ich nicht bestimmen; aber – und da sah ichs vor mir, wies vor Minuten auf einem der losen Blätter, die Pa aus Jenseits von Gut und Böse gerissen hatte, an mir vorbei getrieben war: … es giebt genug Fälle, wo wir bunte Handlungen tun.

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