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Editorial

RISSE-Leser wissen: Sonderhefte ihrer Literaturzeitschrift erscheinen in lockerer Folge und widmen sich wichtigen Themen. Nach den Heften zu Uwe Johnson (1999), zur Fremde (2001) und zum Geld (2003) nimmt das 4. Sonderheft Grenzen unter die literarische Lupe.

»Grenze« hat westslawischen Ursprung (granica = Kante, Rand) und ist ein seltenes Beispiel für ein aus diesem Sprachraum ins Deutsche aufgenommenes Wort. Von Luther wurde es in die Hochsprache eingeführt und hat seitdem die Bedeutung: »eine wirkliche oder gedachte Linie, durch die sich zwei Dinge unterscheiden lassen«.

Damit ist die Zwie- oder Mehrgesichtigkeit des Themas Grenze bezeichnet. Grenzen bezeichnen die Dialektik von Trenn- und Berührungslinie, von Nahtstelle und Begegnungsraum; sie sind Distanzierungs-, Kontroll-, Schutz- und Kontakträume.

Grenzen sind Markierungen des Eigenen und des Fremden, sie zeigen Zugehörigkeit an, geben Sicherheit, stiften Identität und erzeugen Sehnsucht; sie können starr sein oder beweglich wie die Frühlingsgrenze, die durch die Apfelblüte gesetzt wird; Grenzen können absolut oder relativ sein und brauchen deshalb Kommunikation. Grenzen sind aber immer auch Zeichen von Krisenhaftem und verweisen damit auch auf ein weites Spektrum des Gegenteils von Begrenzung: Erlaubnis, Grenzenlosigkeit, Entgrenzung, Integration, Beliebigkeit, Grenzüberschreitung.

Ohne moralische oder juristische Grenzen gibt es keine Gesellschaft. Der Philosoph Georg Simmel (1858-1918) nannte den Menschen ein »grenzziehendes Wesen« – eins, das Grenzen setzt, verschiebt und verletzt. Grenzen signalisieren Gefahrenbewusstsein; sie begründen Angst vor und Lust an der Gefahr.

Die Redaktion der RISSE hat AutorInnen des Landes nach Texten gefragt, die ein möglichst breites Spektrum dessen abdecken, was Grenzen für sie bedeuten. Das Ergebnis ist auf den folgenden Seiten zu lesen. Die AutorInnen entstammen allen Regionen Mecklenburg.Vorpommerns und gehören drei Generationen – der älteste wurde 1933, die jüngste 1984 geboren – an.

Der Grafiker unseres Sonderheftes, der auf Rügen geborene Moritz Grünke, schrieb uns den folgenden Text, der seine Perspektive auf das Grenz-Thema widerspiegelt: »Erinnerungen sind wie Gebäude. Kleine, mittlere und große, mehr oder weniger strukturierte, geschlossene Einheiten, die über Verknüpfungen, die Flure, Gänge, Treppen oder Fahrstühle miteinander verbunden sind. Sie ergeben ein komplexes Gebilde, in dem jede Einheit für das Ganze notwendig ist. Manchmal ähneln sich ihre Grundrisse, so wie Erinnerungen sich ähneln.« ||


Wolfgang Gabler

 

 

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