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Kniesenack und Joe die Banane

06.07.2000 DIE ZEIT von Rolf Michaelis

 

Endlich da: Der dicke Kommentar zu Uwe Johnsons „Jahrestagen“
Ja, doch, wir verstehen alles. Und verstehen nichts. Weil Goethe im Faust Mephisto als „Pudel“ auftreten lässt, müssen wir in allen Aufführungen ein dressiertes, frisiertes Kleintier erdulden, dessen possierliches Getue die Zuschauer zu Beifall rührt.

Nichts da. Goethe denkt an einen poodle, einen hüfthohen Jagdhund, mit dem zu seiner Zeit Studenten Eindruck schinden wollten wie heute mit dem Cabrio. Und wer weiß schon, dass Schiller, Hölderlin, wenn sie von „Duft über den Tal“  dichten, nicht an frisch gemähtes Heu oder Tannenaroma denken, sondern an Dunst, an Nebelschleier.

Also kein Stirnrunzeln, wenn nun zu einem 1891-Seiten-Epos , das „erst“ in den Jahren 1968 bis 1983 erschienen ist, jetzt „schon“ ein 1136-Seiten-Kommentar mit fast 100 Seiten Quellenverzeichnis, mehreren Personen- und Sachregistern erscheint. Ein Roman – bewusst vermeidet der Erzähler Uwe Johnson für sein Jahrhundert-Epos Jahrestage diese Gattungsbezeichnung –, der vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968, dem Tag, als die sozialistischen „Bruder“-Staaten mit Militärgewalt in die Tschechoslowakei einfielen, die Tage eines Jahres erzählt und dabei stets, oft ausführlich, Meldungen aus der New York Times und dem Vietnamkrieg zitiert, – ein so umfassendes Werk, das gleichzeitig weit zurückschaut in das Mecklenburg des 19. Jahrhunderts, braucht den Kommentar.

Das spricht nicht gegen Johnsons Erzählung! Im Gegenteil. Ein an die niederdeutsche Fabeltradition realistischen (auch: humoristischen) Erzählens von John Brinkman und Fritz Reuter anschließendes Werk wird (nur) verständlich, wenn Wörter, Redensarten, Eigenheiten – nicht nur der Sprache – der durch Hitlers Angriffskrieg verloren gegangenen deutschen Sprach- und Dichtungsquellen erklärt werden.

Was schütten die in sich rein, wenn sie sich noch einen „Kniesenack“ genehmigen? Jetzt erfahren wir: „In Güstrow gebrautes, dunkles Bier mit hohem Alkoholgehalt; um 1500 als ‚Knesenac’ erstmals erwähnt; auch ‚Fürstenbier’ genannt.“

Jüngere Leser, die nicht wissen können, dass um 1968 die Politik auf der Straße stattfand, dass gegen Basisdemokratie mit „Notstandsgesetzen“ gekämpft wurde, erfahren etwas über die – hochaktuell! – „so genannten Christlichen Demokraten“, deren damaliger Chef, Kiesinger, Mitglied der Nazipartei von Anfang an, „während der Herrschaft der Faschisten blind, taub und lahm gewesen ist“.

Weil das Buch während des Vietnamkriegs erzählt wird, als die USA, nach dem Befreiungskrieg für Deutschland, jeden – moralischen – Kredit verspielt haben, geht es in Johnsons Jahrhundertwerk auch um den Mafia-Alltag in Amerika. „Habicht Rupolo“, „Eddie Spielzeug“ oder „Joe die Banane“ gehören in Uwe Johnsons Weltgedicht ebenso wie die Hauptfiguren Gesine Cresspahl, ihr Vater Heinrich, ihr Kind Marie.

Dies ist „ein Buch zum Buch von Lesern für Leser“. Der dicke Kommentarband „kann und soll eine Interpretation des Romans nicht ersetzen“.

Und doch! Mit welcher Anteilnahme lesen wir Zeilen, die erst jetzt bekannt werden. Johnson hockt vor dem Fernseher, als sein Namensvetter Lyndon B. Johnson am 31. März 1968 eine Rede an die Nation hält. „Unbeholfen, stotternd, hilflose Person“, notiert der deutsche Gast in Amerika. Wütend wird er, als der alte, von der Industrie in den Krieg getriebene Präsident, mit Krokodilstränen, die sinnlose Auseinandersetzung im Fernen Osten bedauert. Da kitzelt Uwe Johnson an den Rand der New York Times die bis heute dröhnenden Worte: „Wofür sind nun die gestorben, als der Krieg noch nicht falsch war?“

Weshalb wird hier (und gelegentlich) die für dieses Buch so wichtige New York Times zitiert, mit all den Unterstreichungen, Anmerkungen, die Johnson ständig gemacht hat? Natürlich wäre der Kommentarband über jede Benutzbarkeit hinausgewachsen.

Doch so bleibt ein Missverhältnis: Daten, die dem Verständnis von Johnsons Auswahlverfahren helfen könnten, bleiben unerwähnt, dagegen werden Selbstverständlichkeiten, die jeder Leser im Atlas oder Lexikon nachschlagen kann, brav aufgelistet: „Delaware – Grenzfluss zwischen New Jersey und Pennsylvania“ (Seite 208); „Bristol – Hafenstadt in Südwestengland“ (Seite 254) – und selbst das gesamtdeutsche Wort „Schiet“ wird uns als niederdeutsche Entsprechung der alldeutschen „Scheiße“ nicht erspart.

 

           Gesine Cresspahl will nicht mehr in Deutschland leben

 

Doch sind hier, jenseits aller „Kommentare“, Entdeckungen zu machen über einen der großen Erzähler dieses Jahrhunderts, der ohne seinen strengen Blick auf saubere Lebensführung, der nie sein Werk beschäftigt, sondern adelt, nicht recht zu verstehen ist. Will seine Heldin, Gesine Cresspahl, doch nicht mehr in Deutschland leben, als sie erfährt, was die Elterngeneration in Konzentrationslagern „geleistet“ hat.

Unvorstellbar, dass Uwe Johnson in einem Neu-Deutschland hätte leben mögen, in dem sich ein Kleinverbrecher, Beruf: Rechtsanwalt, als Ministerpräsident im Amt hält, nachdem er einen Rechenschaftsbericht gefälscht und Parlament und Öffentlichkeit belogen hat. Solch kriminelle Wühlarbeit war jenseits der Vorstellungskraft eines fantasievollen Erzählers, der 1984, heute muss man es so sagen: „im Exil“ gestorben ist, keine 50 Jahre alt.

Den Kommentarband haben herausgegeben junge Germanisten, die seit 1994 ein Johnson-Jahrbuch herausgeben: Uwe Fries verdanken wir eine der gründlichsten Studien über Jahrestage, Holger Helbig über den Achim-Roman.

Weshalb aber fehlen im Kommentar (jedenfalls im Register) – neben anderen – Fritz J. Raddatz und die beiden Hauptfiguren des von Johnson nicht mehr geliebten Romans Zwei Ansichten, die Krankenschwester Beate Dusenschön und ihr Freund Dietbert Ballhusen? (Dietbert wird, wenn auch nicht im Register, einmal erwähnt: Seite 166. Wer soll ihn da finden?)

Im Kommentar blätternd und viel lernend („vertückscht“ heißt beleidigt , der sowjetische Ortskommendant Pontij ist nach dem italienischen Filmproduzenten Carlo Ponti geschaffen – „dicklich, kleiner runder Kopf, kurze Gliedmaßen“; Anspielungen des lesewütigen Erzählers werden über Shakespeare bis zu Cicero verfolgt), denkt der Leser an das andere große Unternehmen der Erschließung von Johnsons Werk. In Frankfurt am Main arbeitet seit Jahren Eberhard Fahlke mit seinen Helfern vom Johnson-Archiv an einer CD-ROM-Edition, die wegen der schwierigen Bildrechte noch nicht abgeschlossen werden kann. Dann wird man, auf Knopfdruck, sehen können, welche Text- und Bildvorlagen Johnson in sein Werk eingearbeitet hat.

Was Treue heißt zu Personen, wie Uwe Johnson sie gelebt hat, was (philologische) Genauigkeit bedeutet, bis in kleinste Daten, beweist Rainer Paasch-Beeck in seinem Versuch, einen Großvater zu finden, im eben erschienenen Sonderheft über Johnson, der Zeitschrift für Literatur in Mecklenburg und Vorpommern, Risse.

Wo andere, auch Johnsons Biograf, von einem „alten Schweden“ als Ahnherrn der Johnsons faseln und falsche Daten, Ort und Personen vermengen, hat Paasch-Beeck die Mühe nicht gescheut, in Archiven und Dachkammern zu stöbern, lähmend ergebnislose Tage über Kirchenbüchern und Kanzleiakten zu verbringen – und ist fündig geworden.

Ja, es gibt den August Nicolausson Mård, Arbeitsmann zu Neu-Sammit, geboren zu Algutsboda in Kronobegslän am 12. Januar 1844, der sich später Johns(s)on nannte, doch ist sein Verhältnis zur Familie anders als bisher vermutet. Hier muss die Geschichte der Johnsons neu geschrieben werden.

Das Sonderheft Risse entzückt noch mit anderen Überraschungen, die einem Erzähler Recht geben, der strenge Maßstäbe für den Wirklichkeitsgehalt seiner Prosa gewahrt sehen wollte: „Jeder sachliche Irrtum …, jede Schlampigkeit in der Arbeit … gilt als Grund zur Beschwerde …, in den schwersten Fällen zur Verwandlung des Buches in Altpapier.“

Der auch von vermeintlich großen Kritikern wenig geschätzte Erzähler Uwe Johnson, der durch die Vereinigung neue Wahrheit für sein deutsch-deutsch-amerikanisches Epos gewonnen hat, wird noch lange brauchen, bis er dort ankommt, wo ihm ein Ehrenplatz sicher ist – in der deutschen Literatur nach 1945. Bis dahin gilt, was eine junge Frau in Jahrestagen fordert für das verkannte Werk eines zu früh gestorbenen Meisters deutscher Dichtung: „Und ein Zimmer zum Weinen brauchen wir auch noch.“

 

Johnsons „Jahrestage“. Der Kommentar

Herausgegeben von Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries; 1999; 1136 S.

 

Johnson Jahrbuch

Band 6, 1999; herausgegeben von Ulrich Fries und Holger Helbig; 352 S.

 

Ulrich Fries: Uwe Johnsons „Jahrestage“

1990; 184 S.

 

Holger Helbig: Beschreibung einer Beschreibung – Johnsons Roman „Das dritte Buch über Achim“; 1996; 256 S.

 

Alle im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, erschienen

 

Risse – Zeitschrift für Literatur in Mecklenburg und Vorpommern

Sonderheft Uwe Johnson; Literaturhaus Kuhtor, Barlachstraße 30 [sic!]; 18055 Rostock, 2000; 98 S., Abb.

 

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