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Die Stadt als wuchernde Geschwulst

29.09.1999 Ostsee-Zeitung

Rostock (OZ) „Wie kann einer seinen Namen vergessen?“ fragt sich der Erzähler, um gleich darauf ein wenig indirekt zu antworten: „Ich konnte“. Zusammen mit Juveel, einem Professor für modernste Malerei, sitzt er in einem Berliner Fußballstadion, fühlt sich unwohl, möchte gehen, kann aber nicht. Und kann nicht mal sagen, wie er heißt. „Blubars“, sagt er schließlich, und wenn dies auch nicht sein Name ist, so doch der seiner Heimatstadt. Um diese Stadt mit dem merkwürdigen Namen dreht sich der Roman „Juveels Karzinom“ des Schriftstellers Olaf Müller (geboren 1962). Am Montag stellte der Autor das noch unfertige Manuskript dem Publikum in der Rostocker Heinrich-Böll-Stiftung vor. Das besondere an dieser Veranstaltung war, dass Müller bislang noch keinen Roman publiziert hat und somit noch nicht einmal als Debütant zu bezeichnen ist. Der Experimentierfreudigkeit der Böll-Stiftung ist zu verdanken, dass sie diese von Dr. Wolfgang Gabler angeregte und auch moderierte Lesung ins Programm genommen hat.
Allerdings ist abzusehen, dass Müller künftig in den Kreis bekannter und vermutlich auch geschätzter Gegenwartsautoren aufgenommen wird. Dafür spricht, dass der Autor im kommenden Jahr seinen ersten Roman „Tintenpalast“, der erste Teil einer Trilogie, im renommierten Berlin-Verlag veröffentlichen wird. Dort befindet er sich in illustrer Nachbarschaft zu Autoren wie Ingo Schulze, und ein literarischer Erfolg scheint unausweichlich. Dafür spricht allerdings auch die Qualität seiner Texte.
Es ist eine merkwürdige Szenerie, die der Autor in den drei gelesenen Passagen seines noch unfertigen Romans entwarf. Besagter Blubars oder Flolichts, wie er von Juveel genannt wird, künftiger Apotheker und offenbar leicht kauziger Verweigerer des Zeitgeists im turbulenten Berlin der Gegenwart, trifft im Stadion auf den Professor. Im Folgenden entspinnt sich eine Beziehung zwischen den beiden, die an Skurrilität kaum zu überbieten ist. Der ursprünglich sich frei dünkende Flolichts rebelliert gegen das schicksalhafte Zusammentreffen, allein, er kann sich nicht aus der Bindung lösen und folgt seinem zufälligen Herrn auf Schritt und Tritt. „Juveels Karzinom“ ist der zweite Teil der besagten Trilogie. Zentral in allen drei Romanen ist der mythische Ort Blubars, um den sich letztlich alles dreht, und wo auch der dritte Teil spielen wird. Aber die Topographie ist nicht eindeutig. Es bleibe, so Müller, letztlich unbestimmt, um welche konkrete Stadt es sich handelt.
„Ich wohne jetzt seit zehn Jahren in Berlin“, erzählt der gebürtige Leipziger, „und mir ist aufgefallen, dass eine Sozialisierung, die quasi im 19. Jahrhundert fußt, auf eine Stadt trifft, die sich rasend schnell für ein sogenanntes 21. Jahrhundert fit machen will. Und dass das nicht funktioniert, dass da unheimliche Reibungspunkte entstehen“. Aus dem Aufeinandertreffen ungleichzeitiger oder inkompatibler Wahrnehmungen und Lebensformen resultiert eine undurchschaubare Welt, eine Wirklichkeit, die wie ein Dickicht erscheint  –  oder wie eine Wucherung. Nicht umsonst wählte Müller das Karzinom als zentrale Metapher, als Bild, mit dem die gegenwärtige Großstadt am ehesten zu beschreiben ist. „Das kleinzellige Bronchialkarzinom, an dem Juveel leidet, bildet keinen Primärtumor aus, sondern entsteht an ganz vielen Stellen gleichzeitig. Und das ist das Empfinden, was natürlich auch Flolichts transportiert in dieser Stadt, diese Auflösung von Orten“. So trifft auch auf den Text mit seinen zahlreichen literarischen Überlagerungen und unvorhersehbaren Brüchen das Bild der Wucherung zu, die sich einer einfachen Deutung, einer „Übersetzung“ in eine realistische Variante widersetzt. Aber gerade das, so Gabler, mache ja den Reiz seiner speziellen Ästhetik aus.
Müllers Roman lässt sich zumindest nach diesem ersten Eindruck am ehesten in die Nähe der Texte von Ingo Schramm, Reinhard Jirgl oder auch Gert Neumann rücken  –  allesamt Autoren, deren Bücher sich durch experimentelle Formen und ihre Affinität zur klassischen Moderne einer leichten Lektüre verschließen. Da gereicht es der hiesigen Literaturzeitschrift „Risse“ zur Ehre, dass sie in der kommenden Ausgabe einen Vorabdruck einer Passage aus „Juveels Karzinom“ veröffentlicht.

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