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Von der Nachträglichkeit des Schees

(Auszug aus der Erzählung)

Der namenlose Ich-Erzähler lebt mit der „Liebe seines Lebens“, Greta, seit einigen Jahren in einer kleineren Stadt  in Mecklenburg. Sein Vater, ein berühmter Schriftsteller, ist im Alter von Berlin nach Schwaben gezogen, wo der Erzähler seine Kindheit verbrachte. Da dessen Mutter früh verstarb, lebt der Vater allein in einem abgelegenen alten Haus. Auf Wunsch Gretas hin besucht der Erzähler den Vater. Unser Auszug entstammt der Mitte des Gesamttextes. – Anm. d. Red.

Er fand es spaßig, mich Ossi zu nennen. Meine Übersiedlung in die sogenannten Neuen Bundesländer bezeichnete er als katabasis, und dabei grinste er regelmäßig, zog den Kopf zwischen die Schultern und begann leise glucksend zu lachen, als würde sein Witz mit jedem Mal, da er ihn machte, an Komplexität, Treffsicherheit und befreiender Schärfe gewinnen. (Als ich Greta davon erzählte, schien sie sich nicht verletzt zu fühlen. Sie war in der DDR aufgewachsen, aber jetzt schloss und öffnete sie nur nachsichtig die Lider. Sie mochte ihn, sie mochte seine Bücher und telefonierte oft und ausgiebig mit dem alten Mann. Wenn ich sie fragte, was er denn wieder alles zu erzählen gehabt hätte, blickte sie eine Weile mit weit geöffneten Augen vor sich hin, ehe sie stirnrunzelnd aufschaute: Ach, weißt du, so dies und das …)

Er verreiste ausgesprochen ungern; berufshalber hatte er sich oft im Ausland aufgehalten, aber er beherrschte keine einzige Fremdsprache. Da die Sprache selbst, so pflegte er zu behaupten, ohnehin die wahre und eigentliche, die vollkommen unaussprechliche Fremde des Menschen also sei, wäre es schlechthin schwachsinnig, diese Fremde noch verdoppeln oder gar vervielfachen zu wollen.

– Ja? sagte er und streifte sein unvermeidliches Zigarillo im Aschenbecher ab, verstehst du?

Aber ich glaube nicht, dass er auf eine Antwort wartete (allenfalls wartete er auf Applaus). Im Allgemeinen zeigte er sich freundlich und zugänglich; er war kein Misanthrop … als Gesprächspartner jedoch konnte er schwierig und anstrengend sein, manchmal geradezu unausstehlich. Dann versuchte er mir auseinanderzusetzen, wie das, was er in Hölderlins Worten als vesten Buchstab bezeichnen wolle, mit dem uneinholbar frühen Tod meiner Mutter, ihrem spukhaften Inkarnat in den Farben seiner eigenen Existenz also, verschwistert wäre, und ich sagte: Wie bitte? Verschon mich, ernsthaft. Tut mir leid, aber da komme ich nicht mehr mit.

– Nicht? Wieso denn? Denk doch nach. Denk an das, was ein Freund Hölderlins staunenswerterweise als Unwirklichkeit bezeichnet hat. Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit einmal so nennen wollen … Du weißt, von wem ich spreche?

– Um Himmels Willen. Also pass auf, wenn du hier …

– Nein, sagte er, entschuldige. Hegel. Aber egal.

Er war jetzt 75 Jahre alt, und seit einiger Zeit hatte sein blasser, schiefer, schmächtiger Körper merklich zu schrumpfen begonnen. Er humpelte; er bewegte sich fahrig; jeder einzelne seiner Atemzüge wurde von einem leisen, wie eingetrockneten Knistern begleitet, das mich erschreckte – eine Handvoll zerknülltes Papier, das sich von selbst wieder entfaltete … Aber noch immer jenes volle graue Haar, noch immer jene anmutigen schlanken Hände, die Greta, als die beiden sich vor Jahren das erste Mal begegnet waren, gleich für ihn eingenommen hatten; noch immer jenes klare, giftige Licht in den Augen, wenn er auf eine intellektuelle Schwäche oder Schlampigkeit seines Gegenüber stieß und das Bewusstsein der eigenen Überlegenheit in eine unverfängliche Freude an argumentativer Stringenz und frei verfügbarem Wissen zu verwandelt vermochte. – Was ist los mit dir, Ossi?, konnte er dann fragen, während ich bemüht war, den unüberhörbaren Triumph in seiner Stimme zu ignorieren, warum denkst du nicht nach? Streng deine kleinen grauen Zellen an, das hat schließlich noch keinem geschadet … Oder er verschob eine allgemeine, an sich vollkommen harmlose Diskussion über den Wirklichkeitsgehalt des Mythos so zielstrebig und souverän in den Bereich persönlichster, schlechthin unhintergehbarer Wahrheit, dass ich den Eindruck hatte, tatsächlich wäre es ihm nur darum zu tun gewesen, genau diese Tür hinter sich zuzuziehen. Dabei ging es um Orpheus, wie ich mich erinnere, um seinen vom Leib gerissenen, laut singenden Kopf, der auf den gewaltigen Strömen Thrakiens durchs barbarische Land getragen wurde.

Aber mein Vater erklärte nichts. Er sprach hastig und undeutlich, mit bewegten Augenbrauen; nervös bewegten seine Hände sich über dem Küchentisch, wo sein Zigarillo einmal mehr im Aschenbecher erkaltet war. Sein Tonfall war ironisch. Doch als er schließlich den Blick hob, um mich prüfend zu betrachten, konnte ich jenes giftige, klare Flackern in seinen Augen erkennen, vor dem ich zeitlebens davongelaufen war. Nie hatte ich mich ihm und seinen Erinnerungen gewachsen gefühlt. – Deine Mutter, sagte er dann also, hatte ja auch einen Luftröhrenschnitt.

– Ja? Weiß ich nicht.

– Aber ich, sagte er, ich weiß es. Deshalb erzähle ich es dir ja. Sie hatte einen Luftröhrenschnitt.

– So.

– Ein Tracheostoma, sagte er, verstehst du?

– Ich verstehe dich sehr gut. Sie hatte einen Luftröhrenschnitt.

– Genau so, verehrter Sohn, sagte er, genau so.

– Na schön … Ich meine, ich weiß gar nicht, weshalb du das jetzt …

Aber er unterbrach mich ungeduldig und sagte: Wenn die Wirklichkeit eines einzigen Augenblicks so übermächtig ist, so umfassend, so niederschmetternd und unerreichbar, so außerhalb deiner selbst … obwohl es ja auch deine Wirklichkeit ist und deshalb für alle Zeit zu dir gehören wird, auch wenn du keinen Schimmer davon haben solltest … Hörst du mir zu?

– Ja doch.

– Kurz und gut, sagte er, wenn die Wirklichkeit eines einzigen Augenblicks so real ist, dass nichts anderes mehr wahr sein kann, verstehst du?

Ich schwieg, schaute zur Seite und hörte, wie sein knisternder Atem erst in ein Hüsteln, dann in einen prasselnden Husten überging, von dem er sich mühsam befreite. Er räusperte sich, hüstelte und räusperte sich wieder.

– Darum geht’s, ergänzte er seelenruhig, darum geht’s.

Oder er behauptete allen Ernstes: Der Andere ist ein Attentat, ein Skandal, ein Gespenst. Er hilft oder tröstet oder versteht uns nicht, kein bisschen. Er ist kein Freund, keine Geliebte, kein Bruder … Er ist dies alles vielleicht auch. Hinter allem aber, das heißt im allerersten Moment seines allerersten Auftauchens … hinter allem ist er bloß der unmögliche fremde Gott, der unser Leben in seinen Abgrund reißt.

Oder er sagte: Der Mensch weiß nur vom Tod, insofern der Tod im Menschen von sich selbst weiß.

So rätselte ich über sein Sprechen. –

(…)

Aber hatte ich wirklich schon damals das Gefühl, dass er mir etwas verheimlichte? Besser gesagt, dass er mich auf etwas hinzuweisen versuchte, indem er den Eindruck erweckte, er würde mir etwas verheimlichen? Schließlich war seine Geheimniskrämerei nichts Neues für mich. Seine Art zu sprechen hatte ich schon immer als ein bedrohliches und sprunghaftes Rätsel in mir selbst empfunden; nie war es mir gelungen, es stillzustellen oder mit den durchscheinenden Bildern meines eigenen Lebens zu verbinden und so also, fern von ihm, mit sich selbst auszusöhnen. Er sah mich nicht ? oder er sah etwas, das mich zu einem undeutlichen, rasch weglaufenden Fremden machte vor mir selbst; ich weigerte mich, seine Bücher zu lesen (was er mir nie verzieh), und wenn ich versuchte, ihm dort zu begegnen, wo alles leergefegt wäre von Rätseln und beklemmenden Figuren des Fremden, von Geschichten in ungelesenen Büchern … wenn ich ihm an diesem wahrhaft unmöglichen Ort zu begegnen versuchte, stand ich stumm am Fenster, während ich entsetzt feststellte, dass ich am ganzen Körper zu zittern begonnen hatte. Was geschah da? Ich sah die Regentropfen am dunstigen Glas hinunterlaufen, ich hörte sein Murmeln, Hüsteln und das eingetrocknete, leise Knistern seines Atems, das sich in lang anhaltenden, gequälten, prasselnden Hustenanfällen befreite, hörte schließlich, wie er sich mit seinen leicht schlurfenden, leicht raschelnden Schritten auf den knarrenden Bodendielen durch alle Zimmer seines Hauses bewegte …

Auch seine zahlreichen kleinen Ticks, an die ich mich während meines Aufenthalts wieder zu erinnern begann, all seine skurrilen, letztlich aber harmlosen Gewohnheiten schienen sich durch die letzten Jahre erhalten zu haben. Sein endloses Blinzeln, Hüsteln, Räuspern, das aufmerksame Betrachten seiner schlanken Hände, seiner gepflegten Fingernägel, als könne sich an ihnen etwas zweigen, das er in Furcht, Unruhe und Scham schon lange erwartete; sein Festhalten an Streichhölzern, seine Weigerung ein Feuerzeug zu benutzen, obgleich er mit Streichhölzern nie zurechtgekommen war; seine vagen, murmelnden Selbstgespräche, die mich bereits als Kind genarrt hatten (mehr als ein Mal hatte ich erwartet, jemand in seinem Zimmer vorzufinden, in dem ich ihn sprechen hörte; mehr als ein Mal stand ich verwirrt, erschreckt, enttäuscht in der Tür und sah ihn alleine am Tisch sitzen oder am Fenster stehen und hinausschauen) … Er stand früh auf, schlief nachmittags eine halbe Stunde auf der Couch, geisterte nachts oft murmelnd durchs Haus. Seit ich denken kann, habe ich ihn als einen rückwärtsgewandten und grüblerischen, gänzlich in sich selbst verstrickten Menschen erlebt. Er sah das Ende, nicht den Anfang; sein Leben, so dachte ich manchmal, war eine Fortsetzung, die immer nur in die Vergangenheit zurückführte … aber trotz allem: Seine Augen öffneten sich und begannen zu leuchten, wenn er von dem einzigen wahrhaftigen Rätsel des Lebens sprach, seiner Schönheit.

– Ich staune, sagte er, ich staune und staune, nie habe ich aufgehört damit.

Was er mit Schönheit meinte, bezeichnete er am Morgen meiner Abreise als Distanz, als Ruf und Antwort. ? Schönheit, so erklärte er, ist in Wahrheit ja ein Makel. Eigentlich ist sie die Gestalt dessen, der Ausdruck dessen, wonach das Leben sich seit seiner Entstehung sehnt, was es aber aus eigener Kraft nie erreichen kann. Dazu braucht es also uns, ausgerechnet. So verrückt es auch immer klingen mag ? aber wir sind nicht nur ein Produkt des Lebens, wir sind gleichzeitig auch sein Fetisch … Hörst du mir zu?, fragte er, wie er immer wieder zu fragen pflegte, und einmal mehr sagte ich deshalb: Ja.

– Na ja, das sagst du immer, bemerkte er murmelnd und nahm das erloschene Zigarillo aus dem Aschenbecher. Er saß am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, während ich mich unbehaglich in der Tür herumdrückte; beide Hände in den Hosentaschen schaute ich mich um. Alles bekannt … Im Wesentlichen hatte er versucht, sein helles und geräumiges Berliner Zimmer in den niederen, düsteren Räumen dieses Hauses wieder aufzubauen. Hier wie dort waren alle Wände mit Bücherregalen zugestellt, hier wie dort war nicht ein einziges Bild zu sehen. – Ich frage, ob du zuhörst, ergänzte mein Vater, und du sagst ja.

– Es ist so.

– Aha, es ist so …

Das kalte Zigarillo zwischen den Lippen, klopfte er suchend über die Taschen seiner Strickweste, und ich machte also zwei rasche Schritte ins Zimmer, zu seinem Schreibtisch, um ihm mit meinem Feuerzeug auszuhelfen.

Danke, bitte, nichts zu danken

In diesem Augenblick sah ich die Photographie auf seinem Schreibtisch. Ich hätte schwören können (und ich würde heute noch schwören): Ich sah sie zum ersten Mal … Es war eine Schwarz-Weiß-Photographie, die leicht schräg in einem Rahmen stand. Junge Mutter mit Säugling im Garten. Wohl weil sie sich zu ihrem Kind hinabgebeugt hatte, war ihr das Haar in die Stirn gefallen; im nächsten Moment würde sie es zur Seite streichen. Der Säugling lag nackt auf einer Decke im Gras und hatte beide Beine an den Leib gezogen. Blätterschatten zitterten auf seinem fetten, zurückgeworfenen, lachenden Gesicht, auf seinem kurzen dicken Hals, reichten wie die Flügelschatten vorbeifliegender Vögel hinab bis zu seiner Brust, während die Frau, seine Mutter, ihre großen hellen Hände links und rechts an seine Flanken gelegt hatte. So kniete sie also neben ihrem Kind auf der Decke … und aus jenem farblosen, totgestellten Kristall reiner Zeit, wie ich sagen will, stieg ihr verheißungsvoll lächelnder Blick schräg zu mir auf. – Unwillkürlich hatte ich mich vorgebeugt; ich bemerkte, dass mein Vater sich auf seinem Stuhl bewegte, ein Schwall seines scharfen Zigarillorauchs stieg mir in die Nase, dann hörte ich ihn hüsteln. – Aber ich war nicht nur das nackte, von Sonne beschienene, von Blätterschatten gezeichnete Kind unter ihren Händen. Knapp fünf Jahrzehnte später vermochte ich zu erkennen, dass all dies, das sich in ihrem schrägen, lächelnd gehobenen Blick ereignete, nicht für mich, sondern für den Mann hinter der Kamera bestimmt war, für meinen Vater.

– Wo hast du das denn ausgegraben?

Weil er nur fragend brummte, zeigte ich auf die Photographie: Na, das Bild hier. Kenne ich das?

– Das kennst du.

– Das kenne ich? Bist du sicher?

Er bemerkte: Dieses Bild, verehrter Sohn, steht seit vierzig Jahren auf meinem Schreibtisch.

War es zu glauben? – Jetzt war das leise papierhafte Knistern zu hören, das seine Atemzüge erfüllte. Ich trat an die Tür zurück und sah ihn zerstreut seine rechte Hand betrachten, die er vor seinem blassen, besorgt wirkenden Gesicht drehte, wendete, kippte, wegrückte und wieder herannahm.

– Willst du es haben?, fragte er plötzlich, und ich sagte: Nein, nein, lass nur.

– Wie du meinst.

Er schwieg jetzt, ich schwieg, und später legte er die Hand mit einer eigentümlich anmutenden Sorgfalt auf den Tisch zurück. Als er erkannte, dass ich ihn von der Tür aus betrachtete, drehte er den Kopf zur Seite. – Sein Gesicht schien sich über die Jahre mehr und mehr verschoben zu haben. Weil Nase und Ohren weiter wuchsen, und weil das Gewebe insgesamt haltlos und schwammig wurde, wie ich dachte, verlor seine ehemals markante Physiognomie an Strenge und Ausdruck – sie wurde gedrängt und teigig, verschwommen. Ich erinnere mich an meinen Schrecken, als ich ihn für einen Moment – und ehe ich sie hastig löschte – vom Licht meiner Autoscheinwerfer erfasst eine Hand vor die Augen halten sah … Und triefendes Gestrüpp im wüsten, vom Regen aufgeweichten Gelände, mit allen Zweigen schlagend und Tröpfchenbögen versprühend in der späten, stürmischen Nacht meiner Ankunft. Im Hintergrund, wo das Scheinwerferlicht im Dunkeln verloren ging, schob der Wald sich massig und schwarz die Steigung hinab bis zum Haus. Ein Nachtbild aus Regen, Sturm und Scheinwerferlicht, ein Wehen, Prasseln, Schwanken um die schmale und leicht gebückte Gestalt, die vor die Haustür getreten war und geblendet eine Hand vor die Augen hielt – mein Vater beugte sich nach vorn, als müsse er sich gegen den Wind stemmen, und ich schaltete hastig die Scheinwerfer ab. Jetzt erst konnte ich sehen, dass im Hausflur Licht brannte; für einen Augenblick glaubte ich, eine Gestalt hinter der Tür zu entdecken, doch dann hatten die Wischer das Wasser von der Windschutzscheibe geschlagen, und ich erkannte also die Mäntel und Regenjacken meines Vaters, die übereinander an der Garderobe im Hausflur hingen. Ein Paar Gummistiefel war am Boden davor weich zur Seite gesunken … Aber ich erschrak nicht vor ihm, wie ich heute glaube; ich erschrak vor dem Haus. Besser gesagt, ich erschrak vor der vollkommenen Übereinstimmung zwischen ihm und dem Haus, jener nächtlichen Szenerie im sprühenden Regenlicht. Als wäre dies und nichts anderes sein Ort; als hätte er nie woanders gelebt. Abraham in der Fremde? Und ging nicht ich, als sein Sohn, exakt in diesen Spuren?

Auf eine vertrackte oder verschobene, gewissermaßen schräg angeleuchtete Art und Weise war er zeitlebens ein religiöser Mensch gewesen. Nie hatte er davon abgelassen, seine Existenz als einen Ausdruck zu verstehen, eine Art Zeichen – etwas, das wie eine Botschaft nach außen gerichtet und also sichtbar war. Zu der Zeit, als ich ihn besuchte, arbeitete er an dem Roman Die Kirche der Toten, der die Kritik, als er Jahre später posthum erschienen war, in dieses sonderbare, ratlose Entzücken versetzen sollte … bloß schien er damals mit seiner Arbeit in eine Sackgasse geraten zu sein. Manchmal wirkte er regelrecht krank. Nachts hörte ich ihn husten und wie er sich in seinem alten quietschenden Bett ruhelos von einer Seite auf die andere wälzte. Dann geisterte er murmelnd durchs Haus. Ich sah ihn in seiner schäbigen Strickjacke am Küchentisch sitzen, das erloschene Zigarillo im Aschenbecher ablegen und unruhig seine Hände betrachten. Eines nach dem anderen zerbrach er die Streichhölzer an der Schachtel, als er mit wachsender Nervosität, mit immer hektischeren Bewegungen versuchte, sie anzureißen, – bis ich ihm schließlich (weil ich es nicht mehr mit ansehen konnte) mit meinem Feuerzeug zu Hilfe kam. – Du rauchst zu viel, bemerkte ich, und er schaute erst auf das Zigarillo, dann auf mich, dann wieder auf das Zigarillo, ehe er erwiderte: Ach was, tatsächlich? … Er sprach viel von Orpheus, seinem vom Leib gerissenen Kopf, laut singend in dem strudelnden und schäumenden, rasch weggerissenen Wasser irgendwelcher namenloser thrakischer Ströme; ständig wandte er den Kopf, hob den Blick, als müsse er sich nach jemandem umschauen. Hüstelnd brach er seine Sätze ab, um sie an anderer Stelle wieder aufzunehmen; die Unruhe, die kaum einmal mehr von ihm zu weichen schien, ließ ihn durchs Zimmer hasten, sich setzen, gleich wieder aufspringen und ans Fenster treten, dann zum Tisch zurückkehren und so fort. Dort – am Fenster, und als hätte er Schwierigkeiten, auch nur das Gleichgewicht zu wahren – stützte er sich haltsuchend ans Fensterbrett. Meinen Fragen nach seiner Gesundheit wich er aus. Im trüben Tageslicht sah ich ihn schmal, schief, nervös am Fensterbrett lehnen und eine wegwerfende Handbewegung machen – so wischte er meine Besorgnis beiseite. Ich will sagen: Er verachtete den schmächtigen und blassen, rasch alternden Körper, mit dem er allein war. Noch immer, mit weit über siebzig Jahren, war er ein leidenschaftlicher Raucher. Um von den filterlosen französischen Zigaretten loszukommen, denen er seit jungen Jahren verfallen war, war er vor einigen Jahren auf jene kurzen hellen Zigarillos umgestiegen, die er sich von einem befreundeten Berliner Rauchwarenhändler paketweise in den Süden nachschicken ließ. Flache braune Blechdosen, mit einer beigefarbenen Banderole versehen, deren Deckel regelmäßig klemmten und nur schwer zu öffnen waren. Er stapelte sie auf einem Regal in der Küche, gleich neben der alten Kaffeedose, die ich noch aus unseren gemeinsamen Zeiten kannte. ? Ossi, sagte er, ich gehe auf die Achtzig zu, ist dir das eigentlich klar? Acht-zig. Und ich fasse es nicht, ich fasse es nicht. Wie viele Jahre ist es jetzt schon her, dass deine Mutter gestorben ist? Und wie viele Jahre wird es her gewesen sein, wenn ich die Achtzig erreicht habe? Da wird mir übel, verehrter Sohn, da wird mir übel. Ist dir klar, wovon ich spreche?

Ich erwiderte irgendwas, murmelte vielmehr bloß vor mich hin, was er kaum hatte verstehen können, und er erklärte: Je länger ich lebe, desto länger währt ihr Tod.

Und einmal sagte er: Weißt du, es geschehen sonderbare Dinge. Seit ich denken kann, habe ich über den banalen Umstand gestaunt, dass unser wahres Ausdrucksmittel ja immer bloß das Leben selbst ist. Letztlich sind wir nichts anderes als das, was wir leben. Was wir gelebt haben. Richtig? Richtig. Hörst du mir zu?

– Ja doch.

Er fuhr fort: Und dabei – das macht die Sache mysteriös – und dabei ist unser Leben uns ja vollständig aus der Hand genommen. Denn wer lebt schon sich selbst? Das geht ja gar nicht. Unser Leben wird erst sichtbar und erkennbar, also zu einem Ausdruck, wenn es beendet ist. Was uns vernichtet, macht uns erst zu dem, was wir gewesen sein werden. Was wir in gewisser Weise immer schon waren, aber eben auch nicht waren. Noch unsichtbar, wie Gespenster. Noch nicht ganz. Was wir ganz ausschließlich immer nur gewesen sein werden. Da ist diese Differenz, die ich – gelobt sei die Grammatik – zwar formulieren kann, die ich aber nie verstanden habe. Der Rest, eine Lücke, der Übergang vom Unsichtbaren zum Sichtbaren, das Intervall. Hast du darüber schon mal nachgedacht?, fragte er, Ossi?

– Durchaus.

– Aha, durchaus …

Prüfend musterte er mich, und ich erkannte also das giftige, klare Licht in seinen Augen, jenes begierige Flackern, das mich schon immer, wenn ich ihm ausgesetzt war, hatte erstarren lassen. Ich wusste, dass er sich mir weit überlegen fühlte; und ich wusste, dass seine Einschätzung den wahren Verhältnissen entsprach.

– Und zu welchem Schluss bist du gekommen?, fragte er, und ich zögerte kurz, ehe ich sagte: Zu keinem.

Weil ich befürchtete, dass er mich auf glattes Eis locken wollte, hatte ich mich abgewandt. Ich schaute aus dem Fenster und sah nasse, kalte Nebelbänke in den Baumwipfeln des gegenüberliegenden Hügels stehen; der Himmel war ein verödetes, unbewegtes Meer an grauen Wolken und hing tief und schwer, voll Wasser in die Landschaft hinab. Ich sah nichts vom Dorf, nichts vom See; argwöhnisch wartete ich auf weitere Fragen meines Vaters, aber er schwieg jetzt. Und als er wieder zu sprechen begann, hatte er das Thema gewechselt. – Sag mal, wie geht’s dir jetzt eigentlich?, hörte ich ihn überraschenderweise fragen, geht’s dir gut?

– Ja, erwiderte ich, und er sagte: Schön.

– Mir geht’s richtig gut, sagte ich und wandte mich in die Küche zurück, wo er lächelnd am Tisch saß.

– Schön, wiederholte er, schön, das freut mich … Mit einem leisen, behutsamen Lächeln strich sein Blick über mich hinweg. – Und Greta?

– Wieso? Was ist mit Greta?

– Na ja, kommt ihr zurecht?

Halb misstrauisch, halb staunend betrachtete ich ihn. Was geschah jetzt? Wonach fragte er? Im trüben schattenlosen Licht sah ich ihn schmal, krumm, klein am Tisch sitzen, mit grauem Haar und blaufleckigen Lippen, in seiner ewigen grünen Strickweste, die zerknautscht war, fadenscheinig, und mir schäbig erschien … alt geworden, krumm geworden, mager und unruhig, blinzelnd in diesem späten Augenblick seiner Jahre, und mit leicht aufgedunsenem, verschwommenem Gesicht, in dem ihm grau-gelbliche Haarbüschel aus beiden Nasenlöchern standen. Hatte er seit dem Tod meiner Mutter alle Jahre tatsächlich alleine gelebt?

– Ich liebe sie, sagte ich einfach, worauf er nickte.

– Und Greta geht’s gut?

– Greta geht’s prima.

– Meiner treuen Leserin, ergänzte er lächelnd. Erst jetzt bewegte er sich, nahm sein Zigarillo auf, musterte es, legte es wieder weg. Er hustete und nickte mir zu. – Grüß sie von mir, ja? Viele Grüße. Ich glaube, sie ist eine der treuesten Leserinnen, die ich überhaupt habe. Ernsthaft, ich glaube, es ist so. Und das freut mich, weißt du? Greta ist eine junge, schöne, gescheite Frau, und sie ist meine Leserin. Erzählt sie dir manchmal, was sie von mir gelesen hat? Erzählt sie dir von meinen Geschichten?

– Kaum.

– So, sagte er, so …

– Nun ja, sagte ich verlegen, manchmal schon, aber ich frage ja auch kaum danach.

Doch vermutlich hörte er mir schon gar nicht mehr zu. Er war aufgestanden und schaute stirnrunzelnd zur Tür; Moment mal, murmelte er, ehe er aus der Küche verschwand. – Ich bin gleich wieder da, erklärte er noch, aber es dauerte eine geraume Weile, bis er zurückkam und unschlüssig und verdrossen, vielleicht auch leicht verwirrt in der Tür stehen blieb. – Na ja, sagte er auf meinen fragenden Blick, ich wollte dir was zeigen, aber wie der Teufel will, kann ich es ausgerechnet jetzt natürlich nicht finden. Das ist dämlich, oder? … Er blinzelte, fuhr sich durchs Haar und tippte mit dem Zeigefinger nachdenklich gegen seine blaufleckige Unterlippe. – Ich meine, ich sehe es ja vor mir, verstehst du? Als müsste ich nur noch hinfassen. Aber wenn ich dann nachschaue … Nun denn, Schwamm drüber.

– Was war es denn?

– Was?

– Was wolltest du mir denn zeigen?

– Nein, sagte er, ist ja egal. Ich dachte wirklich, also ich war mir vielmehr hundertprozentig sicher …

Er hatte sich wieder umgewandt, als könne er mit Hilfe der suchenden Blicke seinen suchenden Gedanken, die er durch den düsteren Flur wandern ließ, die Richtung weisen … seinen Gedanken, die er dann durch die geöffnete Tür bis in sein Arbeitszimmer wandern ließ, wie ich mir vorstellte, von Regal zu Regal bis zu seinem großen, überladenen Schreibtisch, wo also die Schwarz-Weiß-Photographie in einem Standrahmen rechts in die Ecke gerückt war … Aber er setzte sich jetzt wieder auf seinen Stuhl und legte beide Hände auf den Tisch. Missmutig sagte er: Sei’s drum.

– Bitte?

– Nichts, sagte er, nichts …

(…)
         Mein Vater fragte: Was wirst du Greta denn nun eigentlich erzählen, wenn du wieder zu Hause bist? Wirst du ihr vom Geheimnis dieser Landschaft erzählen, die du schon den ganzen Morgen so ausgiebig betrachtest? Deine Kindheitslandschaft, Ossi, falls du es vergessen haben solltest. Hast du es vergessen? – Aber gar nicht. Weshalb sollte ich es vergessen haben? – Aber es bedeutet dir nichts, sagte er, und ich erwiderte unruhig: Na ja, ich weiß nicht. Das sieht alles reichlich trostlos aus da draußen …

Wasserlachen bildeten sich auf dem teilweise geschotterten Boden; wo das blanke Erdreich zutage trat, war es vom Graupel wie von einer Schicht an dünnfädigem, körnig zusammengewehtem Schimmel überzogen. Alles versank in Nässe, und wenn das Wetter sich nicht rasch besserte, würde mein Auto bald im Matsch stehen. Ich begann mich zu fragen, wie mein Vater wohl den kommenden Winter überstehen wollte. Schon bei wenigen Zentimetern Schnee wäre dieses Haus nur mehr schwer zu erreichen.

Ich hörte, wie er sich räusperte, dann sagte er: Nur damit wir uns richtig verstehen, werter Sohn, das Geheimnis dieser Landschaft besteht nicht darin, dass du in ihr aufgewachsen bist. Was soll schon geheimnisvoll daran sein, dass man irgendwo aufgewachsen ist? Was meinst du?

 – Nichts.

 – Nichts?

 – Ich meine nichts. Ich muss gestehen, dass ich dir nicht ganz folgen kann.

– Ach so. Na, dann denk doch nach, sagte er mechanisch, streng deine kleine grauen Zellen an … Ich erklärte gereizt: Was ich hier draußen sehen kann, ist Regen, Schnee, Matsch. Kaputte Gebäude im Matsch, ich komme mir schon vor wie im Osten. Um Himmels Willen, was machst du hier? Es ist alles kaputt. – Du verwechselst Denken mit Sehen, kann das sein? – Gar nicht. Ich frage mich bloß, was an dem, das ich hier sehen kann, geheimnisvoll sein soll. ? Genau, sagte er, genau, das wäre also die Frage.

Er hüstelte, blätterte, hüstelte wieder; seiner Stimme war anzuhören, dass die Sache ihm Spaß zu machen begann. – Vielleicht geht es ja darum, dass eine Geschichte nie da aufzufinden ist, wo sie sich ursprünglich ereignet hat. Immer woanders, immer wegtransportiert und beiseitegeschafft, immer verhüllt von dem, das sie in Wahrheit erst ans Tageslicht gebracht hat, von der Zeit … Z-E-I-T, buchstabierte er, und er fügte hinzu: Du solltest es ihr wirklich erzählen.
(…)

Risse 28


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