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Ex Utero

(Auszug) 


Ich liege in meiner Ruine. Es sind jetzt nur noch drei Patronen in meinem M24 Scharfschützengewehr. Auf dem Weg durch das zerbombte Dorf habe ich fünf Soldaten der OPFOR getötet. Nur einer von ihnen ist noch übrig, irgendwo. Ein Pole. Auch ich bin der einzige Überlebende meines Teams … Das Schönste an solchen Momenten ist die konzentrierte Stille. Ich kontrolliere den Verschluss. Das zweite Mal diese Minute. Ich will sicher gehen. Keinen Fehler machen. Die Welt ist überlaut. Mein Blick folgt dem Lauf des Gewehrs und ich werde benommen. Die Geräusche überschwemmen mich. Kneife die Augen zusammen, schüttle den Kopf. Aber ich beginne, mich verletzlich zu fühlen und erinnere mich an die Zeitlupen beim Mord an Kennedy, wie der Kopf aufbricht und Hirn herauspoppt. Ich erinnere mich an Bilder wirklicher Menschen, die in meinem Monitor erschossen und erhängt werden, echte, sterbende Menschen, ich erinnere mich an hilflose Gesichter und an Explosionen, an Geschrei, an Handyvideos von echter Panik, die ich sehen muss und nichts tun kann, weil das alles schon vergangen ist, wenn diese Kopie bei mir angekommen ist. Alle sterben sie da vor mir, sacken zusammen, und ich suche weiter das Areal ab. Und dort. Dort, wo ich bin, ist nichts wirklich. Ich merke deutlich, wie machtlos alle sind, da nichts von dem wirklich ist. Überhaupt gar nichts. Das ist wie mit den Wiederholungen bei Fußballübertragungen. Das verändert alles. Alles. Davon sprechen und es ist alles verändert. Und dort, wo ich bin, ist nur das Sprechen. Nichts sonst.

Ich versuche das schwache Gefühl meiner Hand zu kontrollieren, regelmäßig zu atmen, schließe kurz die Augen, um wieder zur Ruhe zu kommen, und lehne mich dann nur so weit um die Reste der Wand, dass ich erkennen kann, ob er von der anderen Seite kommt. Nicht einmal eine Sekunde, den Bereich zu scannen: Ich liege wieder im Dunkeln. Hier kann er mich nicht sehen. Vermuten vielleicht. Er denkt genau wie ich. Es ist immer die Frage, wer den ersten Fehler macht. Wer den Druck der ablaufenden Zeit nicht erträgt. Ich sehe es vor mir. Es wird keine fünf Minuten mehr dauern. Der Pole hat zusammen mit mir begonnen. Das war zum Beginn des 2. Irakkriegs.

Aus meinem Versteck blicke ich auf den Hügel vor mir, eine anständige, grüne Brust, suche sie gründlich ab und stelle fest, dass ich wieder ein Gefühl von Frieden empfinde bei ihr. Auf ihrer Spitze steht ein Baum, von dem ich nur ein Stück des Stamms und die ganze Krone sehe. Es ist einfach nur irgend so ein Baum mit Blättern, aber trotzdem ist er schön und ich merke, wie mein Herz ganz ruhig wird und auch meine Hand. Er und der ganze Hügel mit seinen Gräsern bewegen sich in einem Wind, den ich hier nicht spüre. Durch den Sucher erkenne ich die Schatten der Zweige und Blätter, wie sie sich verändern, wenn sie über eine Vertiefung der Rinde streichen. Wenn ich ein Stück herausschießen würde, was würde damit geschehen? Wie sieht es darunter aus? Gibt es überhaupt ein Darunter? Ich könnte meine Position verraten, wenn er den Schuss hört, aber ich wüsste dann, ob nur ein schwarzer Fleck entstünde oder mehr ist. Ein Fleisch unter der Haut, ein Nervengewebe und Knochen und Muskeln. Ich beginne, mich auf ein Bild zu konzentrieren, das sich in meiner Erinnerung befindet, ohne dass ich wüsste, woher es kommt. Ich sehe mich auf Bäume klettern. Sehe mich Stöcke sammeln und mich damit durch Felder schlagen. Irgendwo bleibe ich liegen, dann ein dickes Mädchen mit rotem Haar, das sich die Hose auszieht und mich lachend zu Boden bringt. Ich erinnere mich kaum an Namen. Bäume, Tiere, Mädchen, keine Namen mehr. Ist das überhaupt meine Erinnerung? Mein Finger spannt sich. Das ist etwas, das ich nicht verhindern will, um zu wissen, wie echt das ist, was ich spüre. Ein einzelner Schuss fällt, dessen leises Echo sich verteilt und schnell auflöst. Vögel, die ich vorher nicht sah, springen knallend PENG! aus der Krone in den Himmel. Ich blicke durch den Sucher und sehe ein Stück zerplatzte Rinde, der Baum hat seine Form verändert, ich sehe weißes faseriges Gewebe scheinen, und obwohl ich weiß: Ich muss weg, JETZT!, wundert es mich, das zu sehen. Ein Moment, der mich fürchterlich erregt. Noch einmal suche ich die getroffene Stelle am Baum, und nur noch ein grauer Film ist zu finden, der sich aufzulösen scheint. Ich muss weg. Ich suche den Bereich ab, den ich sehen kann, aber finde nichts. Mir bleiben keine zwei Minuten, nur zwei Patronen und mir wird klarer, dass ich keine echte Chance mehr habe, das zu überleben. Ich kann versuchen, trotzdem zu laufen, irgendwo anders Deckung zu suchen, aber ich kenne diesen Polen. Er ist nicht schlechter als ich. Ich habe keine Chance. Ich muss weg. Er hat mich gefunden und wenn ich laufe, schießt er mir mit seiner Dragunov SWD präzise seine Kugel durch den Kopf. Ich habe öfter auf Bildern und Videos gesehen, wie das aussieht. So, als könnte man alles wieder reinstopfen und zusammennähen, und da wäre nur noch diese Naht wie vom Reißverschluss, die von einer Seite des Halses über den Kopf zur anderen reicht. Das zerstreute Gehirn sieht nicht nach Erinnerungen aus, Bewusstsein und Gedanken. Es sieht nicht nach FREIHEIT aus. Nicht nach schlechten Gedichten und langweiligen Weihnachtsgeschenken und dem Bemühen um Liebe. Es sieht wie Kotze aus. Echt. Und ich glaube ganz fest, dass das alles ist, dass über dieser Kotze nichts ist. Diese Bilder verändern ja alles. Wieder sehe ich den Hügel deutlich und bewusst vor mir. Ich schließe die Augen, höre nur das Rauschen der Blätter. Ich muss weg. Ich muss weg. Ich öffne sie wieder und sehe, wie in die Ruine ein Vogel hüpft. Er ist vielleicht 15 Meter entfernt. Und ich spüre mich etwas fühlen, das mit mir zu tun hat. Eine Art Lust. Es ist ein kleiner Vogel mit rotem Hals, er kuckt kurz zu mir, springt weiter, ich sehe durch den Sucher. Breitbeinig sitze ich jetzt und lehne mit dem Rücken an der Wand. Ich will, dass er wahr ist, denn nur wenn irgendwas von dem hier wahr ist, kann ich es hier auch sein, existiere ich auch. Dieses plötzliche Bedürfnis nach Wirklichkeit, danach, dass dies nicht nur eine Hülle ist, ist überwältigend. Er sieht mich an, zwinkert, glaube ich, pickt im Staub. Ich selbst weiß, dass es gleich vorbei sein wird. Ich will nur wissen, ob es eine Einbildung war. Und ob ich nicht nur diese Hülle bin. Dass ich frei war. Er piepst nicht. Federn fallen zu Boden. Ich sehe ihn vor mir liegen. Einen Vogelkörper, der ganz steif ist, ohne eine Beschädigung, bis auf einen kleinen schwarzen Fleck, der immer blasser wird, bis er verschwunden ist. Wie der Vogel selbst. Als hätte er in dieser Welt jede Funktion verloren, hört er mit jeder Konsequenz auf zu existieren. Eine Attrappe wie ich, wie alles. Und es wird mir immer klarer: Wie die Schatten auch fallen, es ist nur immer eine andere Oberfläche, die nie vollendet ist. Immer eine andere Oberfläche darunter. Eine ANDERE Oberfläche. Ich stehe auf, lasse das Gewehr, in dem noch eine letzte Patrone steckt, auf dem Boden liegen und bewege mich langsam aus dem Schatten. 

Ein Körper, der aufhört, sich aus eigener Kraft zu bewegen, nur auf den Boden fällt, kein zerrissener Kopf, keine Kotze, nicht einmal ein schwarzer Fleck auf der Stirn oder dem Hinterkopf. Er ist überrascht:

– what happen dude?
– bye, cya tomorrow.

warte keine Reaktion ab, werfe das Headset auf den Schreibtisch und beende die Verbindung. Ich ziehe mir eine grüne Jacke über, stecke mir noch ein Messer ein, und als ich aus der Tür komme, spüre ich dann die Kälte, die mich überrascht. Ich rieche den Geruch dieser Stadt. Jede Stadt riecht anders. Diese riecht nach zigarettenrauchenden Müttern, frisch geöffnetem Boden, Autos, Farbe, Hopfen, nassem Sand, frischem Teer, geräuchertem Fisch, Currywurst und Cannabis, nach zu viel Parfum, Selbstbräuner, nach Hundekot und Blut und Inkontinenz. Altem Holz, Gebäck, Bumskeulen am Fluss … Ich gehe in einen Penny-Markt um mir etwas zu trinken zu kaufen, um wieder klar zu kommen, vielleicht auch ein paar Flaschen Bier, ich weiß es noch nicht. Zigaretten natürlich. Da drin sind picklige Mütter mit ihren fetten Kindern, die sie in großen Körben mit Spielzeug kramen lassen, solange sie vom Wurst- zum Käseregal wandern. Die Hungerjahre. Die Kinder trainieren schon für einen Krieg im Mittleren Osten. Sind fast vollständig in Kampfanzüge gekleidet. Jungletarnhose, Flecktarnjacke, Wüstentarnmütze, Turnschuhe. Der Kik-Markt ist deutscher Hauptkriegsausstatter, der auch mit Duftkerzen geführt wird von zu Hause. Auch du. Auch du musst ihn führen! Eines der Kinder hat sogar ein Spielzeug-Plaste-M4, das futuristische Geräusche macht. Das wäre aber auch nichts für Kinder, immer das Geräusch platzender Organe. Sie streiten sich darum. Der Lauf zeigt auf den Bauch des Kindes, das daran zieht. Das andere lässt es dabei ständig die Geräusche machen. Auch die Mutter hat so ein Tarninnenfutter in ihrer Kunstlederjacke und auch die Hose hat so Applikationen. Man ist eben in Gedanken immer bei diesen Kindern, die ihr Leben riskieren für …

Die Kinder haben jetzt die Regale umgeworfen, Cornflake- und Milchschachteln zu Barrikaden aufgetürmt, werfen Überraschungseier- und Kiwigranaten und auch ein MG haben sie aufgestellt, dass ich selbst in Deckung gehen muss, nicht von den Projektilen aus den Bigpacks getroffen zu werden. Die Verletzten liegen in Bananenkartons und rauchen Marlboro. Doch dann steht da ein türkischer Knabe, an dessen kleinem Körper 30 Rollen Wurst hängen, ich glaube, es ist Teewurst, und der rennt los, überspringt ganz einfach die Barrikade und zündet die Wurst. Kinder schreien und auch die Mütter. Damit hatte niemand gerechnet. Überall kleben Fetzen von Wurst. Und heute ist einer der Tage, an denen ich Wurst ekelhaft finde.

 

Risse 26


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