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Gleißender Sommer

Mit einem Stirnrunzeln legte meine Freundin die Angebote für die nächste Woche aus der Hand und sah mich an. „Jetzt bieten sie bei Aldi schon PCs an“, sagte sie. Kannst du dir das vorstellen? Computer beim Lebensmitteldiscounter!“

Wir hatten uns mit unseren Kaffeetassen auf ihren kleinen Balkon gesetzt, um die erste Zigarette des Tages zu genießen.

„Die Welt wird immer verrückter“, sagte ich. „Wenn ich so ein Spielzeug vor 20 Jahren gehabt hätte …“ Damals waren hierzulande für einen Commodore an die 20 000 Mark bezahlt worden, und jetzt standen Geräte mit der zigfachen Rechenleistung und riesiger Speicherkapazität als Schnäppchen zwischen Schokoladenplätzchen und Apfelsaft. Andererseits … Was hätte er mir geholfen, so ein wunderbarer, leistungsstarker PC? Gewiss, ich hätte schneller, genauer rechnen können, aber hätte das irgend jemanden überzeugt? Wohl kaum.

Ich nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse und hatte plötzlich das Gefühl, dass der gute Jacobs bitter schmeckte, bitter wie der Rondo Melange, den ich damals mit Vorliebe trank. So, wie an jenem frühen Morgen, als Andrea vorschlug, wir sollten noch schnell eine Runde Schwimmen gehen, ehe wir zurück in die Stadt müssten. Wir hatten die Nacht in der Datsche ihrer Eltern verbracht, die idyllisch in einem Waldstück nahe dem Kernkraftwerk lag.

Als wir uns dem Strand näherten, wunderten wir uns über das ungewöhnlich laute Möwengeschrei. Die Ursache erkannten wir, als wir aus dem Wald heraustraten und der Bodden offen vor uns lag. An der Wasseroberfläche trieb in der leichten Dünung eine bleiche, wie Schimmel wirkende Masse von großen und kleinen Fischbäuchen, die nur von den gierigen Möwen in Bewegung gehalten wurde.

„Das ist ja eklig“, sagte Andrea und schmiegte sich an mich. „Lass uns schnell von hier verschwinden.“

„Ja, an Baden ist da wohl nicht zu denken“, sagte ich. „Aber wo kommen die alle her?“ Während wir den schwach ausgetretenen Weg durch den lichten Kiefernwald zurück zum Bungalow gingen, überlegte ich angestrengt, was die Ursache für dieses massenhafte Fischsterben sein konnte. Mir fiel nur eine Erklärung ein: Sauerstoffmangel, hervorgerufen durch zu hohe Wassertemperaturen. Und das lag sicher nicht nur an dem heißen Wetter der letzten Tage. Bestimmt hatte das Kühlwasser des KKWs eine zusätzliche Erwärmung bewirkt. Der Auslaufkanal mündete ja nur einige hundert Meter entfernt von unserer Badestelle in den Bodden. Aber wenn das der Fall war, mussten sich daraus Konsequenzen für die Kühlung des Reaktors selbst ergeben.

„Wenn wir kein anderes Wetter kriegen, erhitzt sich nicht nur das Boddenwasser, sondern auch das Kühlwasser des Reaktors, und es kann zu einer Katastrophe wie in Tschernobyl kommen“, sagte ich. „Wir müssen sofort etwas unternehmen.“

„Aber wie willst du das so genau wissen? Du bist doch Mathematiker und nicht Physiker oder Ingenieur“, sagte Andrea.

„Ich kann das berechnen. Ich mache ein mathematisches Modell von den Strömungen im Bodden und ihren Rückwirkungen auf die Reaktorkühlung. Die entsprechenden Gleichungen können dann auf unserem Großrechner gelöst werden. Du musst mich gleich zum Rechenzentrum fahren. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Noch während wir mit Andreas rotem Lada in die Stadt fuhren, legte ich mir zurecht, wie ich vorgehen wollte. Ich hatte nach meinem Studium eine Arbeit als Programmierer im Rechenzentrum der Deutschen Reichsbahn aufgenommen, wo ich gleichzeitig im Rahmen einer außerplanmäßigen Aspirantur Modellrechnungen an zweidimensionalen Gleichungssystemen durchführte. Dafür stand mir der Großrechner jede Woche mehrere Stunden zur Verfügung. Niemandem würde etwas auffallen, wenn ich zwischenzeitlich statt der mit meinem Mentor vereinbarten Aufgabenstellungen den Strömungsverlauf in einem stehenden Gewässer untersuchen würde. Falls die Ergebnisse so ausfallen würden, wie ich es befürchtete, hatte ich die Beweise in der Hand, mit denen ich die Verantwortlichen überzeugen konnte, dass der Reaktor möglicherweise vorübergehend vom Netz genommen werden musste.

„Wieso hast du eigentlich damit aufgehört?“, fragte meine Freundin.

„Aufgehört? Womit?“

„Na, du hast mir doch erzählt, du hättest beinahe mit einer EDV-Arbeit promoviert, und jetzt machst du ganz was anderes.“

„Das hat sich so ergeben“, sagte ich und rührte in meiner Tasse. „Die Arbeiten an dem Thema wurden eingestellt, und ich musste umsatteln.“ Das war natürlich nur die halbe Wahrheit, aber ich hatte einfach keine Lust, mir den schönen Vormittag mit dem Erzählen der ganzen traurigen Geschichte zu verderben.

Dabei war mir zunächst überhaupt nicht der Gedanke gekommen, dass meine Aktivitäten in einem Desaster enden würden. Allerdings merkte ich schon beim Aufstellen der Ausgangsgleichungen, dass die Sache nicht so einfach sein würde, wie ich zunächst gedacht hatte. Um überhaupt mit den Berechnungen beginnen zu können, brauchte ich nämlich gewisse Basisdaten des Reaktors wie Temperaturen und Umlaufmengen sowohl des ersten wie des zweiten Kreislaufes. Ich musste also jemanden finden, der mir die entsprechenden Informationen liefern konnte. Am einfachsten wäre es gewesen, Andreas Vater, der einen hohen Posten im Parteiapparat des Kraftwerkes bekleidete, um Hilfe zu bitten. Aber das ging nicht, weil der zur Zeit unterwegs war und außerdem gar nichts von meiner Existenz und meiner Beziehung zu seiner Tochter wusste und auch nicht wissen durfte.

Ich hatte Andrea in der Apotheke am Markt kennen gelernt, schon bald, nachdem ich meine Zelte in der Universitätsstadt aufgeschlagen hatte. Ich litt gelegentlich unter starken, migräneähnlichen Kopfschmerzen, und eine, mit meinen Eltern befreundete, Ärztin hatte mir eine Rezeptur für eine Art Wunderpülverchen aufgeschrieben, das in der Apotheke zurecht gemixt werden musste. Andrea, die mich bediente, zeigte sich beeindruckt von meinem Rezept, erklärte aber, die Zubereitung würde eine Weile dauern und es wäre am besten, wenn ich am nächsten Tag wiederkäme. „Aber ich habe die Kopfschmerzen doch jetzt, und bis morgen bin ich gewiss tot“, klagte ich. „Kann ich mich nicht auf den Stuhl am Fenster setzen und warten?“

Sie verzog ein wenig den Mund und verdrehte die Augen. „Ich will mal sehen, ob ich jemanden finde, der Zeit hat“, sagte sie und ging nach hinten. Als sie zurückkam, lag ein Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht, und ich konnte mir nicht klar darüber werden, ob es Mitleid oder Spott war. Jedenfalls durfte ich mich auf den bewussten Stuhl setzen und warten. In der folgenden halben Stunde sah ich ihr zu, wie sie mit freundlicher Aufmerksamkeit den Kunden Ratschläge gab, Tablettenschächtelchen aus den Schubladen holte oder die Kassenkurbel drehte, und je länger ich sie anstarrte und mir ausmalte, wie ich sie in den Arm nehmen, ihr die widerspenstige dunkle Haarsträhne aus der Stirn streichen und sie behutsam auf die Augen küssen würde, desto weniger dachte ich an den bohrenden Schmerz in meiner Schläfe. Als sie mir schließlich zuwinkte und sechs Briefchen mit dem kostbaren Migränepulver aushändigte, war ich überzeugt, dass ich die Frau meines Lebens getroffen hatte. Ich nahm also allen Mut zusammen und fragte sie, ob sie nicht zwischen Dienstschluss und Nachhauseweg Zeit für eine Tasse Kaffe haben würde. Die Milchbar lag ja schräg gegenüber und es hätte sie schließlich nur ein paar Minuten gekostet. Natürlich sagte sie nein, und dass sie zu Hause erwartet würde. Am Tag darauf stockte ich mein Angebot um einen Kirscheisbecher auf, womit ich sie immerhin zum Lachen bringen konnte. Ohne allzu große Hoffnung wagte ich am folgenden Tag einen weiteren Versuch.

„Ich kann hier in Greifswald nicht mit Ihnen in die Milchbar gehen“, sagte sie leise. „Aber wir könnten einen Abstecher nach Grimmen machen, dort gibt es ein hübsches Café. Sie haben nicht zufällig ein Auto?“

Ich zuckte die Achseln. „Ich bin 25, da ist meine Anmeldung noch lange nicht fällig. Aber ich kann eins besorgen …“

„Nicht nötig, seien Sie um halb sechs vor dem Uni-Hauptgebäude, ich hole Sie ab.“

Von da an trafen wir uns regelmäßig, wobei es ihr sehr wichtig war, unsere Beziehung absolut geheim zu halten. Auf keinen Fall wollte sie zu mir in mein möbliertes Zimmer in der Gützkower Straße kommen, und so trafen wir uns spätabends außerhalb der Stadt, wo ich mein Fahrrad an einen Chausseebaum stellte und darauf wartete, dass der rote Lada in der Ferne auftauchte.

Eines Abends drängte ich sie, ihrem Mann reinen Wein einzuschenken und die Scheidung zu beantragen. „Das ist doch kein Leben so“, sagte ich.“ Wir sollten am helllichten Tag Hand in Hand durch die Stadt gehen dürfen, abends aneinander gekuschelt vor dem Kamin sitzen und uns nachts in einem riesig breiten Bett lieben, bis uns der Atem ausgeht.“

„Du hast das gemeinsame Frühstück vergessen“, sagte sie, „darauf lege ich besonderen Wert.“ Dann senkte sie den Blick. „Wie stellst du dir das vor, denkst du auch daran, dass ich eine Tochter habe? Was soll ich ihr sagen? Und das breite Bett kannst du gleich vergessen, oder glaubst du ernsthaft daran, die würden uns eine Wohnung geben?“ Sie sah mich wieder an, strich mir übers Haar. „Du bist mein Held und ich habe dich sehr, sehr lieb, aber bist du sicher, dass es mit uns auf Dauer gut gehen wird? Dass wir all den Belastungen, die auf uns zukommen werden, gewachsen sind? Denkst du auch daran, dass ich fast 10 Jahre älter bin als du?“

Natürlich beeilte ich mich, ihr zu versichern, dass das alles für mich nicht von Bedeutung wäre, und dass ich sie ewig und unter allen Umständen lieben würde, aber sie lächelte nur. „Lass es erst einmal so, wie es ist.“ Die Nacht in der Datsche ihrer Eltern war ein totaler Glücksfall: Ihr Mann auf Dienstreise, die Tochter im Ferienlager und die Eltern auf großer Fahrt mit der Völkerfreundschaft.

Da ich keine Ahnung hatte, wie ich auf die Schnelle Kontakt zu einem Insider aus dem KKW bekommen konnte, rief ich meinen Mentor an der Dresdener Universität an, von dem ich wusste, dass er eng mit den dortigen Kernphysikern zusammen arbeitete. Vielleicht konnte er mir weiter helfen. Der war jedoch wenig begeistert von meinem Vorhaben.

„Weißt du, Daniel“, sagte er, „das Thema Reaktorsicherheit ist viel zu heikel für private Berechnungen. Am besten, du gibst eine entsprechende Information an die Kreisleitung. Die sorgen dann dafür, dass sich Spezialisten mit der Sache beschäftigen.“

Ich rief also im Sekretariat der Kreisleitung an und bekam auch gleich für den nächsten Vormittag einen Termin bei einem verantwortlicher Mitarbeiter.

Der Genosse empfing mich mit einem kräftigen Händedruck. Gönnerhaft bot er mir eine Club an und gab bei der Sekretärin Kaffee in Auftrag. Doch während ich berichtete, verfinsterte sich seine Miene. „Abschalten?“, fragte er, „du schlägst ernsthaft vor, den Reaktor vom Netz zu nehmen? Hast du dir überhaupt überlegt, welche Konsequenzen ein solches Vorgehen nach sich ziehen würde? Schon allein die ökonomischen. Sobald auch nur ein Block vom Netz geht, müssen wir Strom von außerhalb einkaufen. Aber das wäre noch nicht das Schlimmste. Denn Genosse …“ Er holte tief Luft und hob den Zeigefinger. „Der Klassenfeind beobachtet uns ständig. Die wissen genau Bescheid über unsere Termine, unsere Planungen, und wenn ein Atomkraftwerk bei uns außerplanmäßig abgeschaltet wird, dann ist das ein Zeichen von Schwäche nicht nur der DDR, sondern des gesamten sozialistischen Lagers. Und das dürfen wir auf keinen Fall zulassen!“

Damit war unser Gespräch im Wesentlichen beendet. Ich wollte noch auf die Berechnungen hinweisen, von denen ich glaubte, dass sie meine Befürchtungen untermauern würden, aber das interessierte ihn offenbar nicht im Geringsten. Er sagte nur noch, dass es richtig gewesen sei, mich mit meinem Problem an die Partei zu wenden. Ich solle mir jetzt keine Sorgen mehr machen. Er würde veranlassen, dass meine Hinweise überprüft würden.

Mir war nun klar, dass ich auf dem sogenannten Dienstwege nichts erreichen würde. Wenn ich also mein Vorhaben nicht gänzlich aufgeben wollte, musste ich mir die notwendigen Daten unter der Hand verschaffen. Am Nachmittag rief ich Andrea an und fragte sie, ob sie nicht einen der vielen Ingenieure vom KKW kennen würde. Tatsächlich war sie bekannt mit einem Dr. Baumann aus der Forschungsabteilung, und da dieser mit seiner Arbeitsgruppe nicht auf dem Werksgelände, sondern in einem Bürogebäude in der Südstadt untergebracht war, fuhr ich einfach hin. Entgegen meinen Befürchtungen zeigte er sich sehr interessiert und schlug vor, dass wir uns nach Feierabend in der Wohngebietsgaststätte treffen könnten.

Als ich mich der Gaststätte näherte, stand die Sonne schon tief, brannte aber immer noch mit unverminderter Kraft. Verstohlen sah ich mich um. Was tue ich da nur, dachte ich. Wieso muss ich mich heimlich mit jemandem treffen, wenn es um eine Sache geht, an deren positivem Ausgang Partei und Staatsapparat höchstes Interesse haben sollten. Und überhaupt, nach dem Gespräch in der Kreisleitung komme ich mir vor wie der Klassenfeind persönlich. Dabei bin ich der ideale Genosse, Parteimitglied seit dem ersten Studienjahr, Eltern aus der Arbeiterklasse. Ich habe keine Westverwandtschaft, hatte nie Kontakte zur Jungen Gemeinde, ich bin das perfekte Mitglied unserer sozialistischen Menschengemeinschaft. Und jetzt, wo ich Schaden vom Kraftwerk und den Menschen vor Ort abwenden will, da werfen sie mir Knüppel zwischen die Beine.

Aus der Seitenstraße näherte sich eine Person, das musste er sein. „Genosse Baumann?“, fragte ich.

„Genau“ war die Antwort. Gemeinsam betraten wir die Gaststätte. Stickige, von Bierdunst und Zigarettenqualm geschwängerte Luft schlug uns entgegen. Baumann bugsierte mich zu einem freien Tisch unter den weit geöffneten Fensterflügeln. Im Vorübergehen zeigte er dem Mann am Tresen zwei Finger, und nur wenig später brachte uns die vollbusige Kellnerin zwei Bier und zwei Kurze.

„Also Schnaps trink ich auf keinen Fall“, protestierte ich.

„Du kannst hier keine Limo trinken“, sagte Baumann. „Hier versammelt sich die Arbeiterklasse und die trinkt Bier und Korn. Also prost!“ Wir stießen an. Dann berichtete ich vom Fischsterben im Bodden und meinen Befürchtungen um die Reaktorsicherheit. Ich sagte, dass ich unbedingt Berechnungen anstellen wolle, in welchem Maße sich das Boddenwasser und damit das Kühlwasser der Reaktoren unter ungünstigen Umständen erwärmen könnten, und dass ich dazu Angaben über den zweiten Kreislauf benötigte.

Noch während ich sprach, begann er den Kopf zu schütteln. „So läuft das nicht“, sagte er schließlich. „Für derlei Untersuchungen brauchst du einen offiziellen Forschungsauftrag. Dann kriegst du auch die entsprechenden Daten.“

„Ich dachte, wir können das irgendwie in Eigeninitiative machen, ohne den ganzen bürokratischen Apparat. Das würde doch viel schneller gehen.“

„Keine Chance“, sagte Baumann, „ich komme in Teufels Küche, wenn ich vertrauliche Unterlagen rausgebe.“

„Aber es geht um Leben und Gesundheit von vielen Tausenden, das muss es dir doch wert sein. Denk mal an Tschernobyl! Vielleicht hat es da auch jemanden gegeben, der vor dem Unglück gewarnt hat und nicht gehört wurde. Schließlich will ich nur ein paar harmlose Berechnungen anstellen, ich verlange doch nicht, dass du den Reaktor stilllegen sollst.“ Ich sah Baumann beschwörend an.

„Ich werde mal drüber nachdenken, aber mach dir keine großen Hoffnungen“, sagte er.

Ringsum war es laut geworden. Lachsalven dröhnten durch den Raum. Die Kellnerin trat an unseren Tisch und warf einen missbilligenden Blick auf die halbvollen Biergläser. „Noch einen Kurzen?“, fragte sie.

„Für mich nicht“, sagte ich hastig.

„Der junge Mann wird noch gebraucht.“ Baumann grinste vielsagend. „Und mich vermissen sie vermutlich auch schon. Ihr habt doch auch Flaschenbier, vielleicht Radeberger? “ Er sah der Kellnerin tief in die Augen.

„Da muss ich den Chef fragen. Ist aber zum Gaststättenpreis.“

„Natürlich. Ich nehme sechs Flaschen.“

„Ich bin morgen den ganzen Tag im Rechenzentrum“, sagte ich zu Baumann, als wir uns vor der Gaststätte die Hand schüttelten. „Ruf mich an, wenn sich was machen lässt!“

Als ich am nächsten Morgen vor dem Rechenzentrum vom Fahrrad stieg, traten zwei, in graue Präsent-20-Hosen und braune Bundjacken gekleidete, Männer auf mich zu, zeigten mir irgendwelche Dienstausweise und stellten sich als Mitarbeiter der Abteilung Inneres vor. Sie sagten, ich müsse zwecks Klärung eines Sachverhaltes zu einer Befragung mitkommen. Was folgte, war ein Verhör, das sich bis in den späten Abend hinzog. Sie sagten, ein zuverlässiger Genosse habe berichtet, dass ich die Absicht hätte, die Blöcke des KKW stillzulegen. Sie stellten mir immer dieselben Fragen: Wie und mit wessen Hilfe ich den Reaktor stilllegen wollte, ob ich Kontakte zu westlichen Geheimdiensten hätte, ob man mich angeleitet hätte, wie man einen Reaktor abschaltet, ob ich Verbindung zu westlichen Presseleuten hätte … Mit wem ich noch über meine Pläne gesprochen hätte. Sie fragten mich auch, was ich von der polnischen Solidarnosc hielte, ob ich regelmäßig den Sputnik lesen würde, wie ich zu Gorbatschows Glasnost stünde, ob ich Beziehungen zu sogenannten Umweltgruppen oder zur jungen Gemeinde hätte. Ich musste genau schildern, wo und wie ich in den letzten Jahren meinen Urlaub verbracht hatte … Zuerst versuchte ich noch, mein Anliegen zu erklären, meine Besorgnis zu begründen, das ganze Missverständnis aufzuklären, aber ich redete gegen die Wand. Nach etwa 10 Stunden wurde ich in eine Zelle gebracht. Die ganze Nacht brannte helles Licht, ich durfte nur auf dem Rücken liegen. Kaum hatte ich mich auf die Seite gedreht, hämmerte es an die Zellentür und eine grobe Stimme befahl mir, mich wieder auf den Rücken zu legen. Am Morgen wurde das Verhör fortgesetzt. Meine erneuten Beteuerungen, dass ich doch nur Gutes gewollt habe, wurden nicht zur Kenntnis genommen. Am dritten Tag konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten und hatte nur den einen Wunsch, mich richtig ausschlafen zu dürfen.

Dann betrat ein älterer Zivilist den Verhörraum. Es war Andreas Vater. „Hören Sie zu“, sagte er, „Ich kann dafür sorgen, dass man Ihr Vergehen als geringfügig ansieht und die Befragungen noch heute zum Abschluss bringt. Ich weiß von Ihrem Verhältnis mit meiner Tochter. Meine Tochter hat sich von Ihnen losgesagt und bereut es zutiefst, sich jemals mit Ihnen eingelassen zu haben. Ich erwarte, dass Sie sie nie wieder behelligen. Ihr Arbeitsverhältnis bei der Deutschen Reichsbahn ist beendet. Ihre Aspirantur ist ebenfalls beendet. Sie sind nicht würdig, weiterhin die Hilfe und Unterstützung des Arbeiter- und Bauernstaates zu genießen. Ihrem Betreuer teilen Sie mit, dass sie die Arbeit an der Dissertation einstellen, weil Sie das Bedürfnis haben, sich in der sozialistischen Produktion zu bewähren. Sie werden Greifswald auf der Stelle verlassen, sich nach Ilmenau begeben und in der Kaderabteilung des Druckmessgerätewerkes melden. Man wird Ihnen eine Arbeit und eine Unterkunft zuweisen. Sie werden mit niemandem über die Angelegenheit sprechen. Sollten Sie gegen diese Auflagen verstoßen, sollten Sie insbesondere den geringsten Versuch machen, sich meiner Tochter wieder zu nähern, wird man Sie auf der Stelle festnehmen und Ihnen den Prozess wegen Landesverrat und Sabotage machen. Sie werden lebenslänglich hinter Gittern sitzen. Haben Sie mich verstanden?“

„Ja“, sagte ich. Eine halbe Stunde später stand ich vor dem Gefängnistor und starrte auf die menschenleere, sonnenüberflutete Straße. Trotz der Hitze zitterte ich am ganzen Leibe.

An das folgende Jahr kann ich mich nur noch bruchstückhaft erinnern. In dem Betrieb in Ilmenau wussten sie wenig mit mir anzufangen, ich hatte ja nichts Ordentliches gelernt und für einen Diplommathematiker gab es keine Arbeit. Da sie mich aber behalten mussten, weil ich ihnen von „ganz oben“ zugeteilt worden war, setzten sie mich in der Gütekontrolle ein, und ich prüfte Tag um Tag, ob der Druck, den die Geräte anzeigten, mit dem entsprechenden Wert in der Tabelle übereinstimmte. Ansonsten verkroch ich mich in meine Bude im Ledigenwohnheim und versuchte, möglichst wenig aufzufallen.

Eines Tages, es war wohl ein Monat vergangen, klopfte es an meine Tür. Ich öffnete, und vor mir stand Andrea. Ein fürchterlicher Schreck fuhr mir in die Glieder. „Um Gottes Willen, wir dürfen uns nicht sehen. Du musst sofort wieder abfahren“, sagte ich.

„Nein, nein, es ist alles gut, ich habe mit meinem Vater gesprochen. Ich habe ihm gesagt, wenn er mich nicht zu dir lässt, werde ich die ganze Sache an die große Glocke hängen, und wie er dann dasteht als führender Genosse, das kann man sich ja denken. Mein Mann weiß sowieso Bescheid. Wir können zusammensein … wenn du willst.“

„Aber das geht doch nicht, sie werden mich einsperren. Diesen Menschen kann man nicht trauen.“

„Du wolltest mich ewig lieben“, sagte sie leise.

„Aber doch nicht unter diesen Umständen!“ Ich sah die Tränen in ihren Augen. Ich fühlte mich furchtbar elend, in meinem Kopf hämmerte es, eine Stimme befahl mir: ‚Nimm sie in den Arm und alles wird gut!’ Aber da brannte wieder die grelle Lampe in der schmalen Zelle über mir, und meine Angst war so groß, dass ich sie förmlich zur Tür hinaus schob, als sie nicht gleich gehen wollte.

Ein Jahr später kam die Wende. Den Mauerfall nahm ich zur Kenntnis, ohne mir Gedanken über seine Tragweite zu machen. Einen Augenblick lang spielte ich mit dem Gedanken, zu Andrea zu fahren und mit ihr zusammen in den Westen zu flüchten. Doch ich war mir nicht sicher, ob der lange Arm der Stasi uns nicht auch dort erreichen würde. Erst als ich einige Tage später im Fernsehen Mielke vor der Volkskammer erlebte, diesen so mächtigen, gefürchteten Mann, der plötzlich, der Lächerlichkeit preisgegeben, stotterte, er würde doch alle Menschen lieben, überfiel mich die Erkenntnis, dass ich mein Leben wiederbekommen konnte. In fliegender Hast packte ich ein paar Sachen in meinen Koffer und machte mich auf in Richtung Bahnhof.

An diesem Tag fuhr jedoch kein Zug mehr nach Greifswald. Und während ich auf einer Bank auf dem Bahnsteig saß und überlegte, wie ich die Zeit bis zum nächsten Morgen herumbringen konnte, fragte ich mich, was ich ihr eigentlich sagen wollte. Was konnte ich ihr überhaupt sagen? Dass die Gefahr vorüber und ich jetzt wieder ein tapferer Mann war? …

Es dunkelte schon, als sich zwei Bahnpolizisten näherten und mich fragten, ob ich Hilfe brauchte. Ich sagte, es wäre alles in Ordnung; nahm mein Köfferchen und ging nach Hause.

„Warum hast du eigentlich nie geheiratet?“, fragte mich meine Freundin und sah von der Aldi-Reklame auf.

„Weißt du, Schatz, das ist eine lange Geschichte. Vielleicht erzähle ich dir später einmal davon“, sagte ich, legte den Arm um ihre Schulter und drückte sie an mich. Und in Gedanken fügte ich hinzu, wenn es denn dazu kommt.

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