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Am Tisch, im Bett

Im Auto
Beide Türen klappen mit einem Laut zu, er und sie legen Sicherheitsgurte
an, ein symmetrischer Akt. Er mag es nicht, wenn das Autoradio während
der Fahrt läuft, weil er sich bedroht fühlt im Straßenverkehr und
abgelenkt von Radiomusik, Radiogebell. Die Autos vor und hinter sich
belauert er in Spiegeln und durch Scheiben. Wie Feinde. Sie weiß, dass er
Radiomusik, Radiogebell in Autos nicht ausstehen kann. Sie drückt einen
Zeigefinger auf den Knopf mit der Aufschrift Power. Er dreht gleichzeitig
den Zündschlüssel, das verzögert die Radiomusik, das Radiogebell für
den Moment des Startvorgangs. Er will keine Musik, kein Gebell, aber
auch keinen Streit. Es würde, möglicherweise, nicht einmal zum Streit
kommen, sondern zu einer latenten Misslaunigkeit, die sich über Tage
hinzöge, sich zu einem allgemeinen Zustand des Beieinanderseins normalisierte.
Ihre Misslaunigkeit verlangte seinen Respekt, ebenso wie
seine Misslaunigkeit ihren Respekt verlangte. Sie nuschelt die Musik
nach und beobachtet ihn mit provozierender Direktheit von der Seite
beim Ausparken. Er spürt ihren Blick. Er erwartet, dass sie das Nuscheln
unterbricht und sagt: Bleib ganz ruhig. Sie unterbricht das Nuscheln und
sagt: Bleib ganz ruhig. Er erwartet, dass sie grient. Sie grient. Was ihm zu
einem passablen Autofahrer fehlt, ist Dreistigkeit. Sie gilt als gute Autofahrerin,
er als schlechter Autofahrer. Sie behält sich das Steuer für lange
Touren vor. Sie zieht die Herausforderung von Straßenverläufen in unbekannten
Städten dem Einerlei von Pflichtfahrten zwischen Wohnhaus
und Kaufhaus, Kaufhaus und Wohnhaus, Wohnhaus
und Schule, Schule und Wohnhaus vor. Sie pfeift das Geistlose aus den Lautsprecherboxen
nach, laut und falsch. Er fährt zu langsam. Er hält schroff, eine Greisin
die Straße queren zu lassen. Sie schreit: Ob er wahnsinnig sei, da könnte
sonst was passieren, da könnte aufgefahren werden, da zahlte die Versicherung
nicht, da würde man hochgestuft, hochgestuft im Beitrag, das
koste Geld, richtig Geld, so ein Bremser für eine alte Dame, der es beliebe,
fünfzig Meter neben dem Fußgängerübergang über die Straße zu gehen.
Ihn freut ihr Ausbruch. Er sagt: Ja.
Spaziergang
Das Einzelkind schlapp für den Nachtschlaf zu laufen, fahren er, sie, es
zum Naturbelassenheit gaukelnden Zentrum für Freizeitverbrauch. Er,
sie, es gehen im verschleppenden Spazierschritt um den schaufelgebaggerten
Freizeitsee. Er und sie verwalten dabei soviel Würde, dass es zuweilen
ihm und dann ihr und dann wieder ihm ins Gesicht schaut, fragend.
Aus dem See strecken Karpfen Mäuler. Das Einzelkind am Seerand stopft
Karpfenmäuler mit zu Hause eigens zurechtgeschnittenen Brotquadern.
Sie und er stehen hinter dem Einzelkind, sie korrigierend, hinweisend,
Obacht gebend, er steht stumm. Man geht weiter den Weg entlang, dem
Einzelkind lehrsam Schilder ablesend, die an Sträuchern, Bäumen, Farnen
aufgestellt sind, um das Gehen weniger ziellos erscheinen zu lassen.
Er legt, sein pädagogisches Gehabe gewahrend, dem Einzelkind einen
Arm um die Schulter. Weißt noch, zu Ostern, hier lag dein Riesenei. Es
nickt. Sie schüttelt den Kopf. Das war doch da hinten. Weißt noch, im
Frühsommer, als du mit den Freunden in dem Bungalow da geschlafen
hast. Es nickt. Sie schüttelt den Kopf. Das war doch im Spätsommer. Sie
liest dem Einzelkind weiter Schilder vor, er nicht mehr. Das Einzelkind,
es nickt. Er, sie, es bleiben auf der Brücke über dem künstlichen Wasserfall
stehen. Das Einzelkind guckt sie an, bittend. Er: Mach schon. Sie: Du
darfst. Es spuckt und verfolgt mit Interesse das Spuckeschicksal. Er und
sie sehen der sich mit dem Wasser vermischenden Spucke interesselos
nach. Beide trennt ein starres Schweigen. Kurz schauen er und sie sich
in die Augen, vollkommen entliebt. Er, sie, es erreichen die Freizeitbasis.
Minizoo, Stelzenlauf, Skateboard, BMX, Bier, Würstchen, Schokoriegel, Tischfußball. Das Einzelkind, es läuft zu einem Tischfußballspiel, dem
einzig freien, breitet die Arme aus, legt den Oberkörper possessiv darüber.
Be-se-hetzt. Es sucht mit flinken Augen nach Kindern, denen es das
Spiel weggenommen haben, denen es Schadenfreude anzeigen könnte.
Er und sie ziehen Mienen von Vergrämtheit in lächelnde Nachsicht. Sie
und es bilden eine Mannschaft, er bildet die andere Mannschaft. Sie
zeigt größeres Geschick beim Drehen der Holzpuppen, sie trifft die Holzkugel
öfter als er. Er gerät Punkt um Punkt in Rückstand. Sein Gesicht ist
eisig. Sie schiebt es, das Einzelkind, allmählich beiseite, sie spielt allein
gegen ihn. Es steht daneben und stimmt doch in ihr Triumphgeheul ein,
obgleich es dem Übermut nicht traut. Es spürt die Spannung wachsen.
Als einer seiner Holzstürmer auf ihr Tor schießt, nimmt sie die Hand zur
Hilfe, stoppt so die Kugel. Sofort löst er sich vom Spieltisch, geht weg.
Das Einzelkind, es läuft hinterher, verzögert dann, dreht sich zu ihr um.
Sie folgt langsam.

Im Bett
Der Beischlaf wird in unregelmäßigen Abständen vollzogen. Zum Beischlaf
kommt es weniger häufig als in der ersten Zeit des Nebeneinanderseins,
für den Beischlaf festgelegte Wochentage gibt es nicht. Einzig
weil das Thema Beischlaf für ihn und für sie in all den Jahren nicht zu
einem Thema geworden ist, über das zu sprechen man sich gestattet,
wurde/n noch kein/e Wochentag/e für den Beischlaf festgelegt. Das
führt zu Missverständnissen, da den Lustanfällen keine zeitliche Orientierung
gegeben wird. Ihre und seine Wortarmut, den Beischlaf betreffend,
hat zugenommen, nicht abgenommen. Zeitlich festgelegt allein
ist, dass, wenn es zum Beischlaf kommt, es am Morgen zum Beischlaf
kommt. Er und sie vermeiden es, beim Beischlaf nach dem Aufwachen zu
küssen, da Zähne noch nicht geputzt sind, geöffneter Mundraum beim
Küssen fauligen Geruch verströmen könnte. Es kann aber nur am Morgen
zum Beischlaf kommen, weil sie und er an Abenden von Tagwerk
und Fernsehbrei aus Serien, Unterhaltungsfilm, Unterhaltungsshow,
Magazin, Dokumentarfilm, Politik, Sport zu müde und lustarm gemacht
worden sind, als dass man beizuschlafen in der Lage wäre. Selbst wenn einer, er oder sie, am Abend Verlangen nach einem Beischlaf verspüren
sollte, müsste er oder müsste sie feststellen, dass die oder der andere auf
ihrer oder seiner Couch bereits eingeschlafen läge im bläulichen Fernsehgeflacker, worauf ihm oder ihr die Beischlaflust verginge, er oder sie
aber noch zur Sicherheit fragte: Schläfst du?, und keine Antwort oder ein
aufgeschreckt-gelogenes Nein zu hören bekäme. Der Beischlaf vollzieht
sich ausschließlich am Morgen und im Schlafzimmer, das ist vollgestellt,
sauber, gut gelüftet und in tiefem Schweigen konserviert. Der Beischlaf
am Morgen, im Schlafzimmer und mit geschlossenem Mund hat die
immergleiche Abfolge. Er und sie lassen Abweichungen von der Abfolge
nicht zu, da er und sie sich diese Abfolge mühsam und geduldig, ohne
sie, die Abfolge, schließlich besprechen zu können, erarbeitet haben. Die
Abfolge seines und ihres Beischlafs ist aus Kompromissen zusammengesetzt.
Er und sie haben mit den Jahren Gefallen gefunden an der Abfolge,
sie, die Abfolge, tatsächlich liebgewonnen. Es ist für ihn nicht enervierend,
sondern gehört zur Abfolge, schließlich, dass sie ihn zunächst
zum Schein abwehrt, ihn nach diesem Beweis weiblicher Sittsamkeit
dann stumm und mit beleidigtem Blick gewähren lässt. Sie wendet den
Kopf gelegentlich zur Tür und changiert für diese Momente den Blick
von Beleidigtsein ins Bängliche. Es könnte jemand kommen. Es. Dieses
Verhalten variiert auch nicht, wenn es sich gar nicht in der Wohnung
aufhält. Während er ihr abfolgegemäß, ohne dass sie zuvorkommend
den Hintern hebt und ihm anderweitig entgegenkommt, den Slip wegzerrt,
verzieht sie das Gesicht gequält, da das Slipwegzerren unter diesen
Umständen nicht ohne körperliche Berührung erfolgt. Sie erduldet diese
Qual, die gehört zur liebgewonnenen Abfolge. Er hält die Abfolge ebenso
wortlos ein, versucht selbst das Rascheln des Bettzeugs zu dämpfen. Er
entfernt an sich und an ihr gerade so viel Kleidung, dass Beischlaf möglich
werden kann. Beim Akt des Einführens ist sie ihm grob behilflich.
Nun bewegt er sie, sie lässt sich bewegen. Er hat’s, wie sie ja auch, längst
aufgegeben, in der Abfolge Experimentellem Raum zu geben und Abfolgeerfahrungen,die er, wie sie ja auch, im vorehelichen Zustand gesammelt
hat, zur Anwendung zu bringen. Darin sieht er, wie sie auch, keinen
Sinn, da in der erprobten Abfolge ein Höhepunkt enthalten ist, auf den es ankommt und der noch nie ausgeblieben, also nicht aufs Spiel zu setzen
ist. Selbst wenn sein oder ihr Höhepunkt der Abfolge des Beischlafs
ausbleibt, sieht er und sieht sie es als eine Form der Seelenhygiene an,
den Höhepunkt verlauten zu lassen, sich pneumatisch zu geben. Um,
den Höhepunkt verlauten zu lassen, sich pneumatisch zu geben, darf aus
Gründen vorgetäuschter Ekstase der Mund geöffnet und fauliger Geruch
verströmt werden. Ist die Abfolge zeitlich so komprimiert, dass ein Verlauten
des Höhepunkts an Peinlichkeit grenzt, lässt zumindest sie den
Höhepunkt dennoch verlauten. Wenn er von ihr und sie von ihm denken,
der Höhepunkt sei erreicht beziehungsweise verlautet, so verhält er
sich ruhig, verschleppt den Rhythmus der Beischlafbewegung, beginnt
sie zu reden, über Tagesprogrammatisches, was sie davon entpflichtet,
den soeben vollzogenen Beischlaf zu rezensieren, und ihm Gelegenheit
gibt, seinen erschlaffenden Rest im Stile einer Nebensächlichkeit aus ihr
zu entfernen. Die Transaktion ist beendet. Sie sagt, sie müsse ins Bad,
um das Laken nicht zu beschmutzen. Auch er geht sich gründlich seine
Genitalien waschen. Beide bürsten zudem Zähne. Nachdem die Asepsis
hergestellt ist, Zähne gebürstet sind, kommt sie wieder, kommt er wieder.
Das gehört zur Abfolge. Er legt sich an ihre linke Seite und polstert
seinen Oberarm mit einem Kissen, sodass sie weich ihren Kopf darauf
betten kann und das Taubwerden seines Arms hinausgezögert wird. Sie
fühlt sich richtig gut, für den Moment, und das sagt sie nun doch, sie
fühle sich richtig gut, und bringt postkoitalen Frieden zum Ausdruck,
indem sie eines der Fotoalben vom Nachttisch heranzieht. Die Fotoalben
sind thematisch geordnet, Hochzeit, Geburtstag, Entwicklung des
Einzelkindes, Urlaub. Sie bespricht die Fotos, und er muss mit Mhms und
mechanischem Streicheln seine Anwesenheit belegen, bis er, als fiele es
ihm eben ein, ein Vorhaben ankündigt, das keinen Aufschub duldet. Er
steht auf und geht weg, sie bleibt liegen.

Am Tisch
Er, sie, es sitzen am Abendbrottisch. Was kommt heute? Wenn sie fragt:
Was kommt heute?, meint sie: Was bietet das Fernsehprogramm am
Abend? Sie meint das Fernsehprogramm nach Zwanziguhrfünfzehn.
Sie meint nicht, welcher Film im Kino läuft, welches Stück im Theater
gespielt wird. Sie meint nicht, was der Tag, der sich heute nennt,
noch bringt. Was kommt heute? Er antwortet nicht, da er, wenngleich
er Abend für Abend mit ihr vor dem Fernseher sitzt und jederzeit und
bestens Auskunft geben könnte über das Fernsehprogramm, das Fernsehen
als solches offiziell ablehnt. Wollen Kollegen mit ihm über eine
Fernsehsendung, einen Film sogar, sprechen, eine Verkumpelung herstellen
durch die bloße Tatsache, dass man dieselbe Fernsehsendung
oder denselben Film sogar angesehen hat, sagt er: Tut mit leid, ich sehe
selten fern. Oder er sagt, wie entschuldigend: Ich habe gestern Abend
ein Buch gelesen. Mit einem Gehabe, das klarmachen soll: So bin ich nun
einmal, ein bisschen anders als ihr alle. Sie fragt: Was kommt heute? Das
Einzelkind, es gibt Auskunft, geordnet nach Serie, Unterhaltungsfilm,
Unterhaltungsshow, Magazin, Dokumentarfilm, Politik, Sport. Es nennt
die Titel von Serien, Unterhaltungsfilmen, Unterhaltungsshows, Magazinen,
Dokumentarfilmen, Politik-, Sportsendungen. Sie fragt: Was gucken
wir? Wenn sie fragt: Was gucken wir?, meint sie, welche Serie, welchen
Unterhaltungsfilm, welche Unterhaltungsshow, welches Magazin,
welchen Dokumentarfilm, welche Politiksendung oder welche Sportsendung
nach Zwanziguhrfünfzehn, nach der Nachrichtensendung, im
Fernsehen angesehen werden soll. Was gucken wir? Er antwortet: Ich
sehe nicht fern, ich lese. Sie grient, weil er fernsehen wird. Es grient,
weil es weiß, dass er sie nicht ungestraft von ihrer Missstimmung allein
vor dem Fernseher sitzen oder liegen lassen darf. Schweigend essen er,
sie, es weiter. Er, sie, es haben sich Vornehmheit bei Tisch anerzogen.
Mahlzeiten in Restaurants, die gewissermaßen Konversation erzwingen,
halten in puncto Tischsitte keinem Vergleich mit den Essen im eigenen
Esszimmer stand. Sie und er suchen sich zu übertreffen in energischer
Höflichkeit und Zuvorkommenheit. Sie und er suchen sich zu übertreffen
in Anstand und Manieren. Da stützt kein Ellenbogen auf der Tischkante,
da fehlt nie eine Serviette, als unfein gilt, Messer und Gabel beiseite zu
legen, Finger zu Hilfe zu nehmen. Sie und er haben an Gewicht verloren,
das fordert immer wieder die Bewunderung von Gleichaltrigen heraus.
Man sei schließlich in Jahre geraten, in denen naturgemäß das Gewicht zunehme. Er und sie aber nähmen an Gewicht ab. Er wie sie begründet
die Gewichtsabnahme in Fällen der Bewunderung von übergewichtigen
Gleichaltrigen mit gesunder, maßvoller Nahrungsaufnahme. Sie und er
glauben ihren und seinen Worten für die Augenblicke der Begründung.
Völlegefühle, die Lider schwer, den Körper müde machen, kennen er und
sie nur von einsamen Mahlzeiten, die sich aus Unregelmäßigkeiten im
Tagesablauf ergeben. Da ihre wie seine Tage einen feststehenden, aufeinander
abgestimmten Ablauf haben, sind einsame Mahlzeiten Ausnahmen.
In den frühen Jahren der Ehe, als in ihrer ersten gemeinsamen
Wohnung ein Tisch zum Schreiben, Bügeln, Essen, Windelwechseln genügte,
dehnte sich das Abendbrot manchmal bis in die Nacht, stand am
Ende die Wurstplatte mit gräulichem Belag vergessen neben Bierflaschen,
Aschenbecher, lagen Krümel auf kahler, zerkratzter Holzplatte,
unbeachtet im Gespräch. Nun verlaufen die Mahlzeiten beinah stumm.
Die Beinah-Stummheit hat die Art leichter Eingeschnapptheit, die kein
Motiv für sich braucht, da sie nur leicht ist, und dennoch ein Gefühl der
Befriedigung schafft, da sie den anderen ins Unrecht setzt. Zeigt der andere,
sie oder er, doch einmal Nerven, so bedarf es keiner Rechtfertigung,
sondern lediglich einer gespielten Verwunderung. Was denn jetzt wohl
wieder los sei. Womit ein triftiger Grund für Eingeschnapptheit gegeben
ist. Das Einzelkind, es ist mit Tischsitten aufgewachsen.

Bekannte
Er hat keine Freunde. Sie glaubt, Freunde zu haben. Die nennt sie auch:
gute Bekannte. Nach ihrem Verständnis sind es damit für ihn ebenfalls:
gute Bekannte. Mit Fug und Recht dürfe sie ihre guten Bekannten respektive
ihre Freunde gegenüber Verwandten also als Freunde respektive
gute Bekannte der Familie bezeichnen. Die Freunde respektive guten
Bekannten der Familie kommen zweimal im Jahr zu ihnen, er und sie
erwidern zweimal im Jahr den Besuch bei den Freunden respektive
guten Bekannten der Familie. Die Pausen zwischen diesen Abenden
reichen aus, das Fremdsein stabil zu halten, und an Vertrautheit, die
sich im Verlauf des vorangegangenen Gemeinschaftsabends vorgeblich
eingestellt hat, am nächsten Gemeinschaftsabend nicht anzuknüpfen. Die Gemeinschaftsabende verlaufen nach einem Schema. Kurzes Gespräch
über Belangloses wie Autoarten, Urlaub, Wetter, Urlaubswetter,
Einzelkinder, das die erste Steifheit dennoch nicht überwindet.
Ein Abendessen, bei dem die Freunde respektive guten Bekannten der
Familie ob des lächerlich luxuriösen, überreichlichen, den Anlass übertrumpfenden Angebots an Speisen, von denen immer nur gekostet wird,
beschämt und in Zugzwang für das nächste Treffen bei sich zu Hause
gebracht werden. Dann sollen die beiden Einzelkinder unter sich sein.
Sie, er und die Freunde respektive guten Bekannten der Familie versammeln
sich im Wohnzimmer, im Salon, wie sie ihr Wohnzimmer nennt.
Sie entzündet Kerzen, denn Kerzen gehören nach ihrem Dafürhalten zu
einem gemütlichen Abend unter Freunden respektive guten Bekannten,
er trägt, mit vielen nutzlosen Worten das Untrügliche seines Tuns übertünchend, Flaschen und Gläser auf, er weiß, die beiden Freunde respektive
guten Bekannten der Familie bevorzugen liebliche Weißweine und
Jack Daniels, ebenso wie die Freunde respektive guten Bekannten der Familie
für ihn einen trockenen Weißwein und für sie Likör bereitzuhalten
wissen beim Gegenbesuch. Die Freunde respektive guten Bekannten der
Familie spüren manchmal, dass er eigentlich kein Interesse hat an ihnen,
und sie lassen es ihn spüren, wenn sie meinen, dass er nur gezwungen
ein Gespräch aufrechterhalte, an dem er ja kein Interesse haben könne,
weil er eben nur der Mann ihrer Freundin respektive guten Bekannten
sei. Als Gastgeber ist er aber zu Gastfreundschaft, also Gespräch mit
ihnen, verpflichtet. Das nutzen die Freunde respektive guten Bekannten
der Familie. Da alles, was man sagen wollte, bereits und des Öfteren gesagt
worden ist, braucht es viel des lieblichen und des trockenen Weißweins,
eine Flasche Jack Daniels und eine halbe Flasche Likör, bis man
vergessen hat, dass bereits und des Öfteren gesagt worden ist, was man
sich zu sagen erlaubt, und sagt es gleich noch einmal. Und auch er will
nach Mitternacht und der zweiten Flasche trockenen Weißweins, wie
sie, die nun unaufhörlich Salzstangen in sich steckt, und wie auch die
Freunde respektive guten Bekannten der Familie es wollen, den anderen
in den Grenzen des Sagbaren sagen, was des jeweiligen Leben ausmacht.
Es kommen die Einzelkinder hinzu, die es leid sind, unter sich sein zu müssen, und flüstern nicht, sondern schreien in der Unmanierlichkeit
von Einzelkindern: Ihr seid doch alle besoffen. Da erhebt sich die Freundin
respektive gute Bekannte der Familie mit unsicherer Bewegung aus
ihrer Sofakuhle und sagt zum Freund respektive guten Bekannten der
Familie, dass es nun aber wirklich Zeit zum Abschied sei, und es braucht
eine weitere halbe Stunde im Stehen, ehe versichert worden ist, welch
ein schöner Abend unter Freunden respektive guten Bekannten vonstatten
gegangen sei, ehe die Freunde respektive guten Bekannten der
Familie aus der Wohnungstür sind, und er sie endlich allein vor sich hat
und sie endlich anbrüllen kann, dass das nun der unwiderruflich letzte
Gemeinschaftsabend gewesen sei mit den Freunden respektive guten
Bekannten der Familie.

Risse 24


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