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Störquellen
Eine Poetik des Rauschens, Essay – Teil 2

Im Folgenden veröffentlichen wir den Schlussteil jener Poetikvorlesung, die Judith Zander am 19.11.2010 an der Universität Rostock hielt. Der 1. Teil erschien in Risse Heft 26, S. 86-99; dessen Schlusspassage soll den Anschluss herstellen und erfolgt in Klammern – Anm. d. Red.

 

[… die Existenz von unvorhersehbaren Verwerfungen, losen Enden, chaotischen Verhältnissen, die Existenz des Rauschens also, anerkannt und sich mit ihm auseinandergesetzt wird, statt es „zu leugnen, zu überwinden oder zu eliminieren“ (Susanne Scharnowski, „Die Ästhetik des Erhabenen und des Rauschens“, in: Rauschen. Seine Phänomenologie zwischen Sinn und Störung), sind die Bedingungen für die Entstehung von Kunst gegeben und damit einer „Harmonie höherer Ordnung“ (ebd.), nach der es uns hinter allen Fragen letztlich am meisten verlangt.]

 

Den scheinbaren Widerspruch dieser „Harmonie“ zu einem Wort wie Störung möchte ich aber noch mal kurz einer näheren Betrachtung in Bezug auf den Informationsgehalt von Kunst unterziehen, und zwar anhand einer im Kontext des Rauschens immer wieder auftauchenden oder implizierten Aussage: „Rauschen stört Information“ (z. B. Bernd Busch: „Das Rauschen der Bilder“, in: Rauschen. Seine Phänomenologie zwischen Sinn und Störung).

Auch wenn es sich eigentlich um eine sachliche Feststellung handelt, um ein Ins-Verhältnis-Setzen von Rauschen und Information, ist doch die Konnotation von „stören“ negativ und damit scheint es sich um ein Gut/Schlecht-Verhältnis zu handeln, scheint eine Bewertung des Rauschens vorzuliegen: Rauschen als Störenfried. Allerdings wird hier stillschweigend eine allgemein akzeptierte Definition von Information vorausgesetzt, die entweder eine sehr starre, absolute sein müsste oder eine situative, die das Rauschen stets als ihren Gegenpart evoziert und sich quasi über ihn definiert: Information ist dann immer das, worum es geht, Rauschen immer das Unerwünschte, beeinträchtigend Überlagernde. Und da wir ja bekanntlich im sogenannten Informationszeitalter leben, also zu großen Teilen von Information, kann alles Störende und somit das Rauschen nur schädlich, unseren Interessen zuwider laufend, vielleicht gar existenziell bedrohlich sein.

Obige, vielleicht in ihrer Sachlichkeit zutreffende Aussage, schließt dabei eines aus: dass das Rauschen selbst eine Art Information sein könnte. Wurde doch jahrzehntelang versucht, das Rauschen auszumerzen, technische Geräte präziser und weniger störanfällig zu machen, um zu sauberen Messergebnissen und Übertragungen zu kommen, gerade auch im Funk- und Fernsehbereich und bei aller im Laufe der Zeit hinzugekommenen analogen Unterhaltungstechnik. War das Rauschen schon nicht gänzlich unterdrückbar, so sollte es doch wenigstens weitestgehend herausgefiltert werden.

Mit der Digitalisierung schien dann die Lösung all dieser Probleme gekommen (auch wenn die Umwandlung analoger in digitale Signale ein ganz eigenes Rauschen mit sich brachte, das Quantisierungsrauschen, das durch eine für die diskreten digitalen Werte notwendige Rundung analoger Messwerte zustandekommt). Rauschfreiheit war nun in Form eines für die Allgemeinheit zugänglichen und erschwinglichen Produktes zu haben: der CD. Kaum aber hatte diese Segnung des Fortschritts die große Mehrheit erreicht, begann man auch schon wieder, das Knistern des Vinyls zu vermissen. In zeitgenössischer Musik (und das meint eigentlich Musik seit Mitte der 90er Jahre) finden sich wohl die deutlichsten und populärsten Beispiele für nicht nur eine Rehabilitation des Rauschens in Form von Reminiszenzen, sondern gerade auch für ehemalige Störfaktoren als Kompositionselemente. Es klickt, knackt, raschelt und rauscht. Ich habe bei der Vorbereitung dieser Vorlesung überlegt, welches der zahlreichen und schönen musikalischen Beispiele ich Ihnen dafür am liebsten zu Gehör bringen würde, bis jemand mich dankenswerterweise auf das Album Liedgut  von Atom TM hinwies, es erwies sich als die Platte zum Vortrag schlechthin: [Hörbeispiel: Im Rausch der Gegenwart I]

Wie deutlich hörbar, ist mit dieser Hinwendung zum Rauschen, mit seiner Informationswerdung, keine irgendwie technologie- und gegenwartsfeindliche, hippieeske Zurück-zur-Natur-Haltung gemeint, und moderne Kunst hat das schon lange begriffen und betrachtet das Rauschen als unablösbaren Bestandteil von Information, die für Menschen gemacht ist. Sogar die Technik erkennt mitunter das Rauschen als unverzichtbar an: das sogenannte Komfortrauschen ist ein künstlich erzeugtes Rauschen, das dann zum Einsatz kommt, wenn bei der digitalen Übertragung von Sprache, z. B. im Mobilfunk, Sprechpausen auftreten. Durch die ohne dieses Rauschen einsetzende (relative) Stille hätte man sonst den Eindruck einer abgebrochenen Verbindung. Auch hier ist Rauschen keineswegs informationslos.

Wenn  man das Rauschen dennoch unbedingt als Störung begreifen will, müsste man sagen, dass, sobald das Rauschen die Information wird, die Information zum Rauschen wird. Und rauscht nicht tatsächlich ein Großteil an sogenannter Information einfach an uns vorbei, erzeugt nicht das Übermaß ein schwindelerregendes oder betäubendes Rauschen? Das, zum Thema gemacht, wiederum Information werden kann, was der Komplexität eines Rückkopplungsprozesses und damit eines adäquateren Verständnisses der Welt schon recht nahekommt.

Ich glaube, dass man angesichts dieser Überlegungen vom Rauschen nicht länger als von einer „Störgröße“ reden sollte – sondern von einer „Störquelle“, unter Betonung aller positiven Assoziationen, die ein Wort wie „Quelle“ in uns auslöst. Da bedarf es noch nicht mal der Erinnerung an die Mörike-Zeile „Und kecker rauschen die Quellen hervor“, um in uns den Eindruck der Lebendigkeit hervorzurufen.

Wie aber gelangt die Literatur an diese Quellen, wie wird sie selbst zu einer solchen Quelle, aus der wir die uns unentbehrliche Erfrischung der Aufstörung, auch der Verstörung schöpfen?

Man könnte meinen, dies habe, gemäß der weitverbreiteten dualistischen Annahme, Literatur funktioniere jeweils auf einer inhaltlichen und/oder einer sprachlich-formalen Ebene, zunächst etwas mit der Wahl des sogenannten Stoffes zu tun, zumal bei erzählender Literatur. Davon abgesehen, dass ich selbst nicht an diesen Dualismus glaube (und an seine faktischen Konsequenzen, wie die Unterteilung in Lyrik und Prosa, nur als Tatsachen ohne Notwendigkeit), sondern an eine wechselseitige Durchdringung und Rückkopplung, bin ich auch der Meinung, dass die Frage des Stoffes für die Wahrhaftigkeit von Literatur, ihr Rauschpotenzial, völlig irrelevant ist und auch die Form nur bedingt eine Rolle spielt. Es gibt keine natürliche Affinität eines Stoffes oder einer Form zum Rauschen, weil das Rauschen ohnehin alles durchdringt, es geht nur darum, es zuzulassen, nicht herauszufiltern.

Rauschen und Vergeblichkeit hängen unmittelbar zusammen, die Anerkennung des Rauschens ist die Anerkennung der Vergeblichkeit. Selbst wenn sich die Literatur noch so sehr bemüht, Komplexität und damit das Rauschen zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen, wird ihr dies nie in dem Sinne gelingen, dass sie das Leben „erklärt“, weil erstens eben das Rauschen sie daran hindert (man könnte sagen, das Rauschen verhindert in gewisser Weise die Darstellung des Rauschens, ein bisschen wie in dem Gedicht Lob der Faulheit von Lessing) und zweitens Literatur ohnehin unter dem Gesichtspunkt der Vollständigkeit nur wie ein Modell funktioniert. Es gibt keine Vollständigkeit in der Darstellung, es bleibt immer ein Rest von vom Leser höchstens intuitiv Erfassbarem, und deshalb macht es auf rein formaler Ebene auch keinen Unterschied, ob ein Gedicht in einer bestimmten tradierten Form oder in sogenannten freien Versen geschrieben ist, letztere werden dem Gegenstand allein durch ihre „Freiheit“ nicht unbedingt besser gerecht. Im Gegenteil verschwindet mit totaler Formlosigkeit auch die Möglichkeit, überhaupt etwas Substanzielles auszudrücken: Das Ergebnis wäre totales (weißes) Rauschen und damit nur die Aussage, dass das Rauschen existiert, aber keine Erkenntnis wie auch kein ästhetisches Erlebnis darüber hinaus und damit keine Kunst, zu deren grundlegenden Prinzipien die Auswahl, das Weglassen, das Formen gehören.

Ein extremes Gegenbeispiel zu dieser „Freiheit“, die letztlich nichts als komplette Unfreiheit des Ausdrucks wäre, sind die späten Gedichte Hölderlins, die trotz beklemmender Strenge in der Form (Metrik, Satzbau) und fast baukastenhafter Verwendung lyrischer Topoi ein zutiefst unheimliches Rauschen beherbergen, das Chaos darin droht fast die Form zu sprengen:


Der Winter

Wenn bleicher Schnee verschönert die Gefilde,
Und hoher Glanz auf weiter Ebne blinkt,
So reizt der Sommer fern, und milde
Naht sich der Frühling oft, indes die Stunde sinkt.

Die prächtige Erscheinung ist, die Luft ist feiner,
Der Wald ist hell, es geht der Menschen keiner
Auf Straßen, die zu sehr entlegen sind, die Stille machet
Erhabenheit, wie dennoch alles lachet.

Der Frühling scheint nicht mit der Blüten Schimmer
Dem Menschen so gefallend, aber Sterne
Sind an dem Himmel hell, man siehet gerne
Den Himmel fern, der ändert fast sich nimmer.

Die Ströme sind, wie Ebnen, die Gebilde
Sind, auch zerstreut, erscheinender, die Milde
Des Lebens dauert fort, der Städte Breite
Erscheint besonders gut auf ungemeßner Weite.


Rainer Kirsch meinte in einem Aufsatz („Das Klischee als Kunstleistung und die Automatisierung des schöpferischen Prozesses“, in: Amt des Dichters) dazu: „Hervorgerufen durch leichte Verschiebungen beim Aneinandersetzen der Klischees, das fast grelle Klingen der reinen Reime und, allerdings brutale, rhythmische Stauungen und Dehnungen, wie sie Interpunktion und wechselnde Zahl der Versfüße anzeigen, bricht hier aus den Fugen des Gedichts letzte Verlassenheit. (…) in diesem Hölderlin-Gedicht [ist] anschauendes Wissen, dem Spiel mit den verwendeten Klischees nicht mehr gelingen will, weil es zuviel sieht.“

Bei Wahrhaftigkeit geht es nicht um Korrektheit und Anwendung von Regeln. Sätze, in denen der Konjunktiv richtig verwandt und auf die Vermeidung von Wortwiederholungen geachtet wird, haben noch keinen Aussagewert an sich, geschweige denn künstlerische Relevanz. Ebensowenig wie bestimmte Themen, die mit Attributen wie „wichtig“, „hoch aktuell“, „brisant“ versehen werden. Vor ein paar Wochen war in der Zeit ein Artikel von Ursula März zu lesen, in dem sie die Mangelhaftigkeit der Gegenwartsliteratur in der Stoffwahl begründet sieht, und zwar in der angeblichen thematischen Rückwärtsgewandtheit der Autoren. März beklagt: „Literatur, die sich dem Erinnern stärker verpflichtet als dem Erforschen, die lieber fragt ›Was war früher?‹ als ›Was ist heute los, was wird morgen sein?‹, ist zwangsläufig geneigt, gesellschaftliche Gegenwartswelten durch individuelle Gedächtniswelten zu ersetzen, die den Vorteil der Überschaubarkeit besitzen.“

Meiner Meinung nach liegt sie mit dieser Analyse völlig falsch. Was soll uns ein Roman denn sein? Ein tagesaktuelles soziologisches Panorama mit allwissendem Erzähler? Das ist, bei allem Ruf nach Gegenwärtigkeit, zutiefst altmodisch. Das, was Literatur ausmacht, sind eben diese „individuellen Gedächtniswelten“, weil so etwas wie „die Gegenwart“ ja überhaupt nicht existiert. Ich kann erst etwas künstlerisch zur Darstellung bringen, wenn es durch mich hindurchgegangen ist, sprich, sich in meinem Gedächtnis befindet, mal ganz davon abgesehen, dass Romane ohnehin mit einem erheblichen delay zum Leser gelangen und nicht selten einen regelrechten delay-Effekt aufweisen, einerseits im Sinne eines überzeitlichen Nachhalls, andererseits hinsichtlich einer verzögerten Rezeption: Wie so vieles kann auch Literatur in ihrer ganzen Tragweite und Bedeutung mitunter erst Jahre oder Jahrzehnte nach ihrem Erscheinungsdatum erfasst werden. Es ist daher irrelevant, ob sie über vorgestern oder über das vorige Jahrhundert spricht. Literatur darf nicht der Maßgabe unterliegen, eine Art höherer Journalismus sein zu müssen.

Jenem Vermissen von Aktualität scheint nicht nur eine beinah sklavische Angst vor dem Ungültigwerden zugrunde zu liegen, sondern auch die Annahme, dass die Menschen der sogenannten Gegenwart grundsätzlich anders tickten, irgendwie einer anderen Spezies angehörten als die Menschen der Vergangenheit. Doch selbst wenn dies teilweise so sein sollte, nimmt doch der Schriftsteller beide Arten mit derselben Persönlichkeit, nämlich seiner, wahr, er kann ja auch nicht aus seiner Haut und seiner Zeit, wie kann man also erwarten, dass er über einen Gegenwartsmenschen, was die conditio humana betrifft, zu grundsätzlich anderen, moderneren Aussagen kommt als über einen Menschen der Vergangenheit? Und nur um diese Aussagen geht es letztendlich, wir wollen etwas über das menschliche Leben erfahren, unter welchen Umständen auch immer. Zeitanalysen, die sich auf die Gegenwart beschränken, sind dazu nicht per se besser geeignet als Retrospektiven, und die März’sche Frage „Was wird morgen sein?“ ließe sich von einem Schriftsteller wohl nur beantworten, wenn er hauptberuflich Prophet wäre, und das würde mir heutzutage etwas unseriös vorkommen.

Zum Problem der „individuellen Gedächtniswelten“ sei außerdem noch gesagt, dass sie, wenn sie ehrlich gehandhabt werden, alles andere als überschaubar sind. Echte Erinnerung ergibt nie eine konsistente Geschichte, wir neigen nur oft dazu, sie zu konstruieren, indem wir sie uns selbst wie ein Stück trivialer Literatur erzählen, dabei spüren wir jedoch, wenn wir aufmerksam sind, gerade beim Erinnern das Rauschen mit am stärksten, das in dem Bewusstsein der Differenz zum tatsächlichen Erlebnis besteht. Oswald Egger stellt seinem Riesenwerk Die ganze Zeit Auszüge aus Augustinus’ Bekenntnissen voran, dort heißt es in Eggers Übersetzung: „Dies ist die gewaltige Kraft des Gedächtnisses, überaus groß, mein Gott, ein weiter Innenraum, immens als unendlich. Wer je zu seinem Grund vorgedrungen ist? Und doch ist und bleibt es die Kraft meines eigenen Geistes, die meinem Wesen angehört, und dennoch fasse ich selbst nicht das Ganze, was ich bin oder sein kann. Der Geist ist zu eng, um sich selbst zu fassen. Und wo mag sein, was er sich-in-sich nicht fasst? Wäre dies und das Charakteristische etwa außer ihm und sich, und nicht in ihm selbst? Wenn aber in ihm selbst, wie fasst er es doch nicht? Bewunderung und Bestürzung erfassen mich, innere Unruhe und Staunen übewältigten mich.“

Die literarischen Gedächtniswelten müssen diese Differenz berücksichtigen und fruchtbar machen, indem sie ihre Aufmerksamkeit genau dorthin richten und etwas Drittes, zwischen und über Erinnerung und Erlebnis Liegendes, aus dieser Spalte wachsen lassen.

Hier kommt der von Robert Musil in seinem Mann ohne Eigenschaften beschriebene „Möglichkeitssinn“ ins Spiel: „Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, […], dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.

Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehn; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“

Das Rauschen wird, als zu ignorierende Störung, lieber als das betrachtet, „was nicht ist“ und in jedem Fall als unwichtiger als das, was ist, dabei ist es konstitutiv für eine Kunst, für eine Literatur, die nicht eindeutig, sondern mehrdeutig (und damit erst im eigentlichen Sinne Kunst) sein will, die das Leben nicht nur wie ein Lektüreschlüssel interpretieren, sondern erweitern will. Für diese Erweiterung ist der erwähnte Möglichkeitssinn unabdingbar. Literatur, die zum Leben mehr beitragen will, als lediglich eine Beschreibung dieses Lebens zu liefern, darf nicht in erster Linie fragen: Was ist (jetzt)?, sondern: Was könnte (ebensogut und auch unabhängig von Wahrscheinlichkeiten) sein? Dies ist nicht unbedingt im Sinne einer Utopie/Dystopie gemeint, sondern als Auslotung von Paralleluniversen, als Fokusverschiebung bis zur Umkehrung des Verhältnisses Vordergrund/Hintergrund, als Neubestimmung des Signal-Rausch-Abstandes.

In diesem Zusammenhang muss man sich auch noch mal gegen das klassische Verständnis von Interpretation wenden, die „versucht herauszufinden, was der Autor sagen wollte, und mitnichten, was der Leser versteht“, wie es bei Roland Barthes heißt. Der Möglichkeitssinn muss nicht nur im Autor wohnen, sondern auch und gerade dem Leser zugestanden werden, und da der Autor Leser seines eigenen Textes ist, sollte auch er, für seinen eigenen Text, den Verständniswillen für die Notwendigkeit verschiedener Lesarten aufbringen.

Diese Lesarten realisieren im eigentlichen Sinne das Rauschen des Textes, sie bilden die verschiedenen sich übereinander lagernden Wellen, Frequenzen (auf denen der Text empfangen wird), schon in ein und demselben Leser, der wohl nicht zweimal in denselben Text-Fluss steigt und in dem schon während ein und derselben Lektüre die Eindrücke widerstreiten.

Trotzdem wird auch mit einer Vielzahl von Lektüren ein literarischer Text nicht zu erschöpfen sein, wird kein vollständiges (Rausch-)Bild entstehen. „Am Grunde jedes Textes, so sehr er auch auf Lesbarkeit angelegt ist, [wird] Unlesbares bestehenbleib[en]“, schreibt Barthes („Über das Lesen“, in: Das Rauschen der Sprache) „das Lesenkönnen lässt sich in seinem Anfangsstadium bemessen und verifizieren, wird aber sehr rasch bodenlos, regellos, stufenlos und endlos“.
Wir begegnen in dieser Beschreibung nichts anderem als Attributen des Rauschens. Ähnliches wie hier über den Lese- ließe sich über den Schreibprozess sagen, der sich ebenso wenig abschließen, auch gegen etwas abschließen lässt.

Gleichzeitig gibt es aber, wie Barthes (ebd.) betont, keine „,wilde‘ Lektüre: Die Lektüre übersteigt die Struktur nicht, sie ist ihr unterworfen“ – ebenso, wie das Schreiben der Struktur der Sprache unterworfen ist, das Rauschen den Umständen, unter denen es auftritt und als künstlerisch integratives Element dem Kontext – referenzloses Rauschen wäre sinnlos.

Das Rauschen wird aber, so meine Überzeugung, nicht in erster Linie über inhaltliche Elemente Teil des Textes, sondern durch die der Sprache.

Nun weist Sprache selbst schon ein hohes Rauschpotenzial auf, sie ist voller Uneindeutigkeiten, störanfällig und erfasst das, was wir Wirklichkeit zu nennen gewohnt sind, nur unzureichend. Auf die Sprache ist nur bedingt Verlass, sie ist der unzuverlässige Erzähler avant la lettre.

Wir haben es in literarischen Texten also gleich mit einem doppelten Rauschen zu tun: dem der sogenannten außersprachlichen Wirklichkeit, auf die der Text referiert, und dem der Sprache selbst, und die Frage ist, ob sie nun deshalb, aufgrund dieser strukturellen Ähnlichkeit, besonders gut füreinander geeignet sind oder ob damit jede Darstellbarkeit von vornherein verunmöglicht wird. Damit ist natürlich auch wieder die alte Frage nach dem linguistischen Huhn und Ei aufgeworfen: Gibt es ein vorsprachliches Denken, eine Wirklichkeit, die für uns außerhalb der Sprache existiert?

In Bezug auf das Rauschen erscheint mir dies aber irrelevant, denn, wie oben bereits bemerkt, ist das Phänomen ubiquitär und somit notwendigerweise auch eine Begleiterscheinung von Sprache als einem Element der uns umgebenden Wirklichkeit. Wir kommen also an diese Wirklichkeit und ihr Rauschen nicht (weil sie nichts Separates, von der Sprache Getrenntes ist) mit einem rauschfreien Instrument von außen heran, in Betrachtung der Wirklichkeit betrachtet sich die Sprache auch immer mit, das Rauschen wird – und vermutlich nur so – darstellbar mit den Mitteln des Rauschens, mit einem Rauschmittel. Ein solches ist die Sprache zweifellos, und eben nicht nur als Träger von Information im Sinne eines „Inhalts“, sondern an sich, wie man von vielen leidenschaftlichen Lesern hören kann, nicht wenige davon Schriftsteller, für die diese Faszination einen Ausgangspunkt ihres Schreibens bildet; als Kinder lasen sie oft alles, was sie zu fassen kriegten, zufällig irgendwo geschrieben sahen, die Frage des Verständnisses blieb dabei zweitrangig.

 

„Ich breitete Schrift um mich aus. Ich verschlang, was gedruckt war. Ich vergaß mich. Auf belebtem Platz saß ich wie trunken. Das Alphabet trug mich fort.“

 

Wolfgang Koeppen beschreibt in diesem Zitat aus Jugend geradezu ein Rauscherlebnis.

Auch später noch ziehen Buchstaben, zieht der Klang von Worten solche Leser unwiderstehlich an, gerade auch dann, wenn sich die Worte der Lesbarkeit, dem Verstehen verweigern, und sei es nur aus dem Grunde, dass es sich um eine fremde Sprache handelt. Solcherart Reduziertheit auf die graphische oder phonetische Ebene ist umgekehrt betrachtet doch wieder das Gegenteil von Reduktion: Diese reine Struktur beinhaltet alle Möglichkeiten und gibt damit tatsächlich ein Paradebeispiel des Rauschens ab.

Dieses Primat der Sprache gegenüber der (herausinterpretierbaren) Bedeutung und insbesondere gegenüber der Bedeutung der Autorschaft fordert auch Barthes in seinen berühmten Aufsätzen, wenn er vom „Text“ als dem literarisch Relevanten spricht: „Der ‚Text‘ ist das, was sich an die Grenzen der Äußerungsregeln (der Rationalität, der Lesbarkeit) begibt.“ („Vom Werk zum Text“, in: Das Rauschen der Sprache)

Ein Beispiel dafür finden wir erstaunlicherweise in einer berühmt gewordenen Formel, nämlich der des Schreibers Bartleby in Herman Melvilles gleichnamiger Erzählung. Wie Gilles Deleuze in seinem Aufsatz Bartleby oder die Formel zeigt, handelt es sich bei dem von Bartleby in leichten Variationen stets aufs Neue geäußerten Satz „I would prefer not to“ eigentlich um eine ihren inneren semantischen Zusammenhalt fast sprengende Äußerung, weil das in diesem Kontext ohnehin schon sehr ungewöhnliche „prefer“ auf etwas Positives, auf ein Bevorzugen oder Wollen von etwas hinauszulaufen scheint, um dann sogleich durch das abrupt endende „not to“ konterkariert zu werden. Die Bevorzugung von nichts gewissermaßen, des Nichts am Ende. Nicht umsonst sind alle übrigen Beteiligten der Geschichte völlig aus dem Konzept gebracht. Stärker kann es in einem einzigen kurzen Satz kaum rauschen.

Sobald es einem Autor gelingt, zu einem von ursprünglicher Neugier getragenen Verhältnis zur Sprache zurückzukehren und gleichzeitig über alle semantische und auch grammatische Erfahrung hinauszugehen, kann ein Text entstehen, der per definitionem einer ist, der das Rauschen nicht nur zulässt, sondern es geradezu als seinen Forschungsgegenstand betrachtet. Man kommt fast nicht umhin, noch mal aus Die ganze Zeit von Oswald Egger zu zitieren: „Kann ich die Sprachen des Wassers erlernen? im Wald, am Eis-steilen Alpenberg, in Tragtalgwannen in Regen-schräg (zu Schäffern) verhangenen Wiesen und Firn, Flurmulden, wie Nebelbecken vollgesogen morgens, oder im Sickerkarst zerklüftet, am Meer, in Sepiaschulpen einer Muschel, von Schalklaffen Maulschwämmen verklammert.“

Wohl nicht zufällig werden hier in der Frage nach einer (anderen) Sprache die Rauschräume Wald und Meer aufgerufen.

Der vermeintliche Sinn, die Bedeutung tritt gegenüber dem Rauschen, das in diesem Falle fast synonym zu setzen ist mit der Sprache – „ein System ohne Ende noch Zentrum“, wie Barthes es nennt („Vom Werk zum Text“, in: Das Rauschen der Sprache) – zurück: „Der Text […] praktiziert das endlose Zurückweichen des Signifikats, […] sein Feld ist das des Signifikanten; der Signifikant darf nicht als ,erster Teil der Bedeutung‘ aufgefasst werden, […]; desgleichen verweist die Endlosigkeit des Signifikanten nicht auf irgendeine Vorstellung der Unsagbarkeit (des unsagbaren Signifikats), sondern durchaus auf die des Spiels; die Hervorbringung des […] Signifikanten erfolgt […] in einer seriellen Bewegung von Versetzungen, Überlappungen und Variationen, die Logik […] ist keine begreifende, […], sondern eine metonymische; die Arbeit der Assoziationen, der Kontiguitäten und der Übertragungen deckt sich mit einer Freisetzung der Symbolenergie (an ihrem Mangel würde der Mensch zugrunde gehen).“

In dieser Aussage wird auch noch mal deutlich, dass es einem Text, der sich über die Sprache definiert (und damit erst eigentlich zum Text wird) und über ihren integrativen Bestandteil, das Rauschen, nicht um die Behauptung der vermeintlichen Tatsache unsagbarer, unausdrückbarer Dinge und Phänomene geht, sondern eben um ihre Unendlichkeit und somit die Unmöglichkeit ihrer vollständigen Erfassbarkeit, um ihre Vielfalt und Komplexität, die sich am ehesten mit den Mitteln des Spiels symbolisch darstellen lässt. Das Rauschen ist kein unerklärbares Phänomen, es ist aber wohl ein nicht zu Ende beschreibbares, es ist eine höchst komplexe, uns permanent umgebende und uns innewohnende Erscheinung, die sich mit einem einzigen Bewusstsein nicht mit all ihren Strukturen und in all ihren Erscheinungsformen erfassen lässt. Schon das rein physikalische Rauschen besteht aus so vielen „Versetzungen, Überlappungen und Variationen“ von Wellen, Frequenzen, dass wir es nur mit Hilfe des Computers analysieren können, im eigentlichen Sinne anschaulich wird es dadurch aber trotzdem nicht.

Auf symbolischer Ebene muss es darum das ständige Verlangen der Kunst bleiben, diesen uns umgebenden Komplexitäten zu einer unserem Bewusstsein für ihre Relevanz und Schönheit weckenden Stimme zu verhelfen, unter Freisetzung von „Symbolenergie“, wie Barthes es nennt, an deren Mangel der Mensch zugrunde gehen würde. Was nichts anderes heißt, als dass er auch an einem Mangel des Ausgangsmaterials zugrunde gehen würde, das für diese Symbolreaktion notwendig ist, die beim Aufeinandertreffen von sogenannter Wirklichkeit und sogenannter Kunst abläuft, sprich an einem Mangel an Komplexität, an einem Mangel an Rauschen.

Zum Abschluss möchte ich Ihnen ein Gedicht nicht vorenthalten, das ich im letzten Jahr geschrieben habe, unter dem Eindruck eines berauschenden Anfangs, und das zugleich den Anfang meiner Faszination für das Rauschen markiert. Die englischen Versatzstücke darin stammen von Sylvia Plath:

 

fooled. I knew

                                              Wise men say only fools rush in.

                                                                                      Elvis Presley


ließen die leitung offen lauschten
unserem schlafen I slept, say zwei jahre zwillings
atem im ohrensausen ein rosa
rauschen a snake masked es gibt dich
verschwindend länger als mich die
verbindung among black rocks unsrer ohrmuscheln gibt
ein meer serendipität nur
nähe trennte uns as
a black rock irgendwann
wurde in the white das telefon
gefunden der regen
darin hiatus of winter ein
einrauschen


Risse 27


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